Antwerpen: „Die Perlenfischer“

Premiere: 14.12.2018
besuchte Vorstellung: 29.12.2018

Trailer

Wiederholung der Jugendsünde

Lieber Opernfreund-Freund,

das Jahr neigt sich dem Ende zu, aber es ist noch immer Zeit für einen beeindruckenden Opernabend. Der Opera Vlaanderen ist da gleich in dreifacher Hinsicht ein Coup gelungen: Sie präsentiert dem belgischen Publikum zum ersten Mal seit Jahrzehnten, dass Bizet neben Carmen noch ein wunderschönes Werk für die Opernbühne geschrieben hat, ermöglicht den Künstler der Gruppe FC Bergman, die bisher vor allem mit originellen Sprechtheaterproduktionen von sich Reden gemacht hat, ein beeindruckendes Debut als Opernregisseure und stellt mit Elena Tsallagova eine derart betörende Léïla auf die Bühne, dass man gar nicht weghören mag.

Der seinerzeit 25jährige Georges Bizet hat, ganz dem Zeitgeschmack entsprechend, ein fernöstliches Sujet vertont und erzählt in seinen Perlenfischern die Geschichte des Perlenfischers Zurga, der seinen alten Freund, den Jäger Nadir wiedertrifft. Beide hatten sich einst in das gleiche Mädchen verliebt, gelobt, ihre Freundschaft immer über die Liebe zu einer Frau zu stellen, und beide auf die junge Frau verzichtet. Die junge Léïla soll derweil durch ihren Gesang Unwetter und die Gefahren der See abwenden, um die Perlenfischer zu schützen, und singt verschleiert auf einem Felsen zum Gott Brahma. Nadir erkennt in ihr die Jugendliebe und wird mit ihr zusammen wortbrüchig, die beiden finden zueinander. Da fordern die Perlenfischer ihren Tod für das gebrochene Gelübde, doch Zurga legt im Dorf Feuer, um den beiden die Flucht zu ermöglichen.

Die Künstlergruppe FC Bergman, 2008 von Stef Aerts, Marie Vinck, Thomas Verstraeten und Joé Agemans gegründet, hat bislang vor allem durch beeindruckend originelle Sprechtheaterinterpretation und -projekte von sich reden gemacht und präsentiert sich mit ihrer Lesart der orientalischen Vorlage erstmals als Opernregisseur. Dafür wählt sie nicht nur eine fesselnde und originelle Bildsprache und raffiniertes, stimmungsvolles Licht, sondern zeigt die Geschichte als Erinnerung und Wiederholung einer Jugendsünde. Nadir und Zurga treffen in einem Seniorenheim aufeinander, Léïla stößt als Sängerin hinzu und sie und Nadir finden erneut zueinander. Gleichsam wird die Erinnerung an die eigentliche „Perlenfischergeschichte“ von den jungen Tänzern Bianca Zueneli und Jan Deboom in, traumhaft verträumten Bildern dargestellt. Der junge Zurga aus der Erinnerung tritt als Ankläger und Bindeglied zur Gegenwart auf, übernimmt dabei den Part, der im Libretto dem Gemeindeältesten Nourabad zufällt. Die Umdeutung ist so perfekt, die Spiegelung der Handlung so überzeugend, die Bebilderung so hypnotisierend schön – was sicher auch an den tollen Kostümen von Judith Van Herck und der aufwändigen Maske aller Beteiligten liegt – es ist eine wahre Freude. Nicht nur die in der Bewegung eingefrorenen Erinnerungen schaffen Gänsehaut: Zurga, der am Ende der Oper allein zurückbleibt, stirbt hier zu den letzten Takten der Partitur.

Dass diese Lesart so gut wirken kann, ist auch der hochkarätigen musikalischen Umsetzung zu verdanken. David Reiland spornt das Symfonisch Orkest Opera Vlaanderen zu Höchstleistungen an, präsentiert die um rund zwanzig Minuten gekürzte Partitur – die Produktion in Antwerpen wird ohne Pause gespielt – farbenreich mit allerhand orientalischen Einsprengseln, überzeugend und voller Energie vom ersten bis zum letzten Takt. Der nahezu omnipräsente Chor, vom Österreicher Jan Schweiger betreut, vollbringt Höchstleistungen, singt und spielt hervorragend und bestens aufeinander abgestimmt. Der junge Stanislav Vorobyov zeigt als Nourabad, über welch durchschlagkräftigen Bass er bereits verfügt, und darf damit erwartungsvoll in die Zukunft blicken. Stefano Antonucci als Zurga präsentiert einen weichen und doch präsenten Bariton und ist somit ein idealer Zurga, der zwischen der Liebe zu Léïla, der Freundschaft zu Nadir und dem eigenen Rachewunsch schwankt. Der gebürtige US-Amerikaner Charles Workman gestaltet den Nadir klar und höhensicher, verfügt über eine faszinierende Bühnenpräsenz und große Gestaltungskraft.

Absolut beeindruckt und voll des Lobes bin ich für Elena Tsagallova. Die junge Russin verfügt über eine klare Stimme mit engelsgleicher Höhe, die sie scheinbar ohne jegliche Anstrengung erreicht, Farbenreichtum und Agilität. Ihr umwerfendes Spiel verstärkt die hypnotisierende Wirkung ihres Gesangs noch und das macht sie zweifelsohne zum Star des Abends. Das zeigt auch der Schlussapplaus im bis zum letzten Platz besetzten Opernhaus in Antwerpen. Die Begeisterung für die Leistung aller Beteiligten ist zu Recht groß, schier überbordend werden die Bekundungen allerdings, als die Sopranistin sich zeigt. Und ich bin mir überdies sicher, dass anlässlich der Premiere auch die Künstlergruppe FC Bergman ähnlich frenetisch beklatscht wurde.

Im Januar wandert die unbedingt erlebenswerte Produktion nach Gent und im Mai ist sie in Luxemburg zu sehen, mit dessen Theater zusammen diese Perlenfischer entstanden sind.

Ihr Jochen Rüth 30.12.2018

Die Fotos stammen von Annemie Augustijns