Jean-Philippe Rameau
22 III 2019
Barrie Kosky und der Choreograph Otto Pichler überraschen mit beschwingter Leichtigkeit!
„Les Boréades“ sieht man leider nur sehr selten auf einem Opernspielplan – dabei ist sie eine der allerschönsten Opern von Rameau. Was genau passiert ist werden wir nie wissen: Am 25. April 1763 begannen die Proben an der Pariser Oper, die jedoch aus unerfindlichen Gründen abgebrochen wurden. Zu einer Premiere kam es nicht bis zum Tode Rameaus im Oktober 1764 (er starb in dem damals sehr beachtlichen Alter von 81 Jahren). 200 Jahre später wurde die Partitur quasi zufällig in der Bibliothèque Nationale in Paris gefunden und fand erst 1982 die sehr beachtete Uraufführung im Festival von Aix-en-Provence statt, die zu einer richtigen „Rameau-Renaissance“ in Frankreich führte. Doch die „Boréades“ (es handelt sich um stürmische Winde im heutigen Afghanistan) haben von dieser Renaissance erstmals nur wenig profitiert, wegen einer angeblich recht dummen Geschichte von Urheberrechten (die mit der Uraufführung anfangen, auch wenn das Werk 219 Jahre zuvor geschrieben wurde). So dauerte es wieder 21 Jahre bis „Les Boréades“ endlich an der Pariser Oper gespielt werden konnte, für die es ursprünglich komponiert worden war. Doch nun scheinen diese Probleme geglättet zu sein und „Les Boréades“ werden immer öfters gespielt, jetzt auch zum ersten Mal in Dijon, wo Rameau 1683 geboren wurde.
Über die komplizierte Entstehungsgeschichte von „Les Boréades“ wurde in den letzten dreißig Jahren viel spekuliert und meines Erachtens auch sehr viel Unsinn geschrieben. So war man sich 2003 bei der Erstaufführung in Paris überall einig, dass es sich um ein „revolutionäres“ Werk handelt, das wegen seines brisanten politischen Inhaltes durch die königliche Zensur verboten worden wäre. Dieser „Komplott-Theorie“ wird nun auch der längste Artikel im Programmheft der Oper in Dijon gewidmet, der uns im Vorfeld das Schlimmste befürchten ließ. Doch Regisseur Barrie Kosky besaß die Weisheit – und inzwischen auch die Erfahrung mit Rameau – die feine „Wind-Oper“ nicht mit den heute üblichen politischen Konzepten zu überfrachten, sondern sie so anzugehen, wie Rameau und sein Lieblingslibrettist Louis de Cahusac es ausdrücklich wollten. Denn über wie sich diese beiden hochinteressanten Herren einen Opernabend vorstellten sind wir außerordentlich gut informiert, da Rameau auch ein großer Musiktheoretiker war – er wurde durch seine Zeitgenossen sogar als „Musikphilosoph“ bezeichnet – und Louis de Cahusac war zusammen mit Jean-Georges Noverre der größte französische Tanztheoretiker überhaupt. Man braucht nur die große „Encyclopédie“ von Diderot und d’Alembert aufzuschlagen, um Ihre Auffassung von Musik und Tanz in ihren hervorragend formulierten Aufsätzen zu lesen.
Nur welcher Regisseur tut das heute noch? Viele tun es nicht, aber Barrie Kosky hat es wohl getan und meint in einem Interview für das Programmheft, dass „Les Boréades“ keine politische Oper ist, sondern „ein Werk voller Träume, ein „Tristan und Isolde“ des französischen Barocks“. Und so hat er es inszeniert, in dem er den getanzten „divertissements“ allen nötigen Raum gab. Sie waren für Rameau das Wichtigste – man braucht sich nur die Plakate seiner Uraufführungen anzusehen, auf denen die Tänzer groß und die Sänger kleingeschrieben wurden (er war in allen diesen Dingen sehr penibel).
So beginnen wir die Premieren-Rezension ausnahmsweise mit den Balletteinlagen – auch mit der schönsten Musik, denn sie waren der künstlerische Höhepunkt des Opernabends. Der österreichische Choreograf Otto Pichler ist in Frankreich wenig bekannt, aber es ist das zweite Mal, dass wir schreiben, dass seine Arbeit „das meist Herausragende an der Regie“ ist/war – wie schon 2010/13 für den „Ring“ an der Opéra de Paris. Erst wenn man gesehen hat, wie viele Choreografen bei Rameau kläglich versagen – wegen der vielen Tanzeinlagen werden in Frankreich zur Zeit viele Rameau-Opern durch Choreografen inszeniert – kann man ermessen, was für eine großartige Leistung Otto Pichler und sein Team vollbracht haben: mehr als dreißig Tänze (die Bewegungschöre einbegriffen), die nie langweilig werden, weil sie gekonnt in die Handlung eingebunden wurden und die vor allem – und das ist leider heute auch recht selten geworden – haargenau mit großem musikalischen Gespür der Musik folgen.
Die Umsetzung ist vom Feinsten mit nur sechs Tänzern, von denen jeder – auch wenn sie offiziell immer als Gruppe tanzen – auch noch etwas Persönliches einbringt, wie Benjamin Dur, der oft eine kleine, feine Portion Humor in seine Bewegungen einfließen ließ. Yacnoy Abreu Alfonso (aus Kuba), Julie Dariosecq, Lazare Huet, Anna Konopska und ihr „Kapitän“ Anaëlle Echalier hatten offensichtlich eine solche Freude beim Tanz, dass diese sich mühelos auf den Chor und die Solisten übertrug, die so genau und synchron mitgetanzt haben, dass man oft nicht mehr wusste, wer nun Sänger und wer Tänzer war. Das weiße Einheitsbühnenbild, vor dem sich die meist schwarzen Kostüme deutlich abhoben (beide von Kathrin Lea Tag) und die sehr feine Beleuchtung von Franck Evin sorgten dafür, dass man jeder kleinsten Handbewegung genau folgen konnte. So entstand eine beschwingte Leichtigkeit, auch bei den für Rameau und Cahusac dramaturgisch so wichtigen Stürmen und Erdbeben.
Emmanuelle Haïm dirigierte souverän zum dritten Mal „Les Boréades“ (sie war 1999 schon Assistentin von Simon Rattle in der leider nicht sehr geglückten Erstaufführung bei den Salzburger Festspielen). Das durch sie gegründete oft hervorragende Orchestre du concert d’Astrée klang jedoch etwas matt. Lag es an der etwas niedrigeren Stimmung (400 Herz, weswegen einige Blasinstrumente neugebaut werden mussten), an der nicht ganz einfachen Akustik des großen Auditoriums (1.600 Plätze) oder an den vielen verpatzten Bläsereinsätzen bei der Ouvertüre?
Der Abend fing musikalisch durchwachsen an, doch er steigerte sich mit jedem neuen Tanz und endete in einem Triumph:10 Minuten anhaltender Premierenapplaus! Hélène Guillemette sang die Königin Alphise, die sich in das Findelkind Abaris verliebt (der sich zuletzt als Sohn Apollos entpuppt). Mathias Vidal war ein äußerst musikalischer Abaris, der jedem da Capo wieder neue Nuancen geben konnte, die jedoch im großen Saal etwas verloren gingen. Das führte ihn leider dazu, seine feine Stimme als haute-contre zu überstrapazieren, die ihm dann bei seinen beiden wunderbaren Schluss-Arien schmerzlich fehlte. Emmanuelle De Negri sang mit viel Aplomb die vier Rollen des Cupidon, Semire, Polymnie und der (entführten) Nymphe, die Barrie Kosky – dramaturgisch sehr überzeugend – zu einer einzigen Figur zusammengeschmolzen hatte. – So können die Pfeile des Amor auch schwer verletzen! Auch der Gott Apollon und der Hohepriester Adamas verschmolzen zu einer Figur – womit gezeigt wird, wie die Götter direkt in das Geschehen eingreifen. Edwin Crossley-Mercer verlieh dieser Doppelfigur seine elegant geführte Bassstimme, die an diesem Premierenabend leider auch hörbar an ihre Grenzen stieß. Das lag bei Christopher Purves (Borée) und Yoann Dubruque (Borilée) vielleicht auch daran, dass sie so fulminant getanzt haben, sodass sie aus der Puste kamen. Sebastien Droy hatte als Calsis damit kein Problem und der absolut perfekte Choeur du concert d’Astrée auch nicht. Weil er dazu auch noch so fantastisch getanzt hat, war der Chor für uns der beste Sänger des Abends!
Die ausverkaufte Premiere wurde prominent besucht und es ist wahrscheinlich, dass diese exzellente Produktion – bald auf DVD zu sehen (bei Warner) – noch an vielen europäischen Opernhäusern gezeigt werden wird. Als erstes an der Komischen Oper in Berlin in 2021. Dann wird es auch die nächste Rameau-Rarität in Dijon geben: „Zoroastre“. Wir sind gespannt! Waldemar Kamer
Waldemar Kamer 26.3.2019
Fotos: Gilles Abegg