Prermiere am 10.6.2016
Im „Himmel“ und in der „Hölle“ ist man immer in der Welt Shakespeares
In Wien und in Marseille wurde zur gleichen Zeit „Macbeth“ gespielt – doch die äußeren Umstände hätten kaum unterschiedlicher sein können. In Wien, wo die Zuschauer die Vorstellung der Staatsoper auf einer großen Leinwand „live am Platz“ verfolgen konnten, war es der „Himmel“ (vorausgesetzt dass man dort auch blutige Opern mit Hexen, Kröten und Gespenstern akzeptiert). In Marseille war es dagegen eine „Hölle“, so wie wir sie aus den Bildern von Hieronymus Bosch kennen.
Schon die Anreise hatte einen apokalyptischen Charakter: in Paris mussten wir vor dem Bahnhof Berge von liegengebliebenem Hausmüll durchqueren und wurden auf dem Bahnsteig durch einen Militärtrupp im Kampfanzug erwartet, der mit angeschlagenen Maschinengewehren den Zugang zum einzigen Zug bewachte, der an diesem Streiktag nach Marseille fuhr. Doch da dieser Zug „nicht mehr als doppelt so viel Reisende wie Sitzplätze aufnehmen könne“, wurde hunderten Menschen der Zugang verwehrt und es kam zu solchen Raufereien, dass Polizisten mit scharfen Hunden eingreifen mussten.
In Marseille wurden wir ebenfalls von Polizisten und Soldaten erwartet, weil sich dort schon seit Tagen betrunkene Fußballfans rauften, die nun grölend im direkten Umfeld der Oper Lieder auf Englisch und auf Russisch sangen. Wir waren bei Shakespeare angelangt, denn in beinahe allen seinen Stücken gibt es einen Moment, in dem die geordnete Welt aus ihren Fugen gerät und ungebändigte, archaische Triebe freien Lauf bekommen.
Die Aktualität und politisch-gesellschaftliche Brisanz dieser Momente wurde besonders gut analysiert in dem Buch von Jan Kott „Shakespeare, unser Zeitgenosse“ (1965), das eine ganze Generation von Regisseuren beeinflusst hat, anfangend mit Peter Brook, Jerzy Grotowski und Roman Polanski (der 1971 einen viel zu wenig beachteten Macbeth-Film gedreht hat). Die letzte große Regie-Arbeit, die sich ausdrücklich auf Kott bezog, war die Inszenierung von Calixto Bieito von Aribert Reimanns „Lear“ in Paris, die zeitgleich zu den „Macbeths“ in Wien und Marseille lief und ausgiebig durch den Merker Norbert Weinberger rezensiert wurde.
Sein hymnisches Lob scheint uns keineswegs übertrieben, denn auch wir sind der Meinung, dass dieser „Lear“ das Beste war, was es seit einiger Zeit an der Pariser Oper zu sehen gab und (wahrscheinlich) die beste Opern-Regie von Calixto Bieito (bis jetzt). Der Eindruck war so prägend, dass das Chaos und die Gewalt auf dem Weg nach Marseille nur eine Fortsetzung dieses „Lears“ zu sein schienen. Wir waren also hoch gespannt auf die Inszenierung in Marseille von Frédéric Bélier-Garcia, der „Macbeth“ kurz zuvor umschrieben hatte als „Oper der verfluchten Leidenschaften“.
Die Qualität einer „Macbeth“-Inszenierung erkennt man gleich im ersten Bild, dem berühmten Hexenchor. Da muss der Regisseur die Damen deutlich situieren & charakterisieren: als mythische Naturwesen in der Heide, als lüsterne Prostituierte, als herrenlose Flüchtlinge auf einem heutigen Bahnhof – wir haben schon viele überzeugende szenische Lösungen gesehen. Aber was uns in Marseille bei hochfahrendem Bühnenvorhang erwartete, überzeugte uns nur wenig. Den verfallenen Palastsaal von Jacques Gabel mit links, rechts und hinten jeweils zwei hohen Türen haben wir schon etliche Male auf einer Opernbühne gesehen – man kann darin nämlich genauso gut „Tosca“ oder „Eugen Onegin“ spielen. Die historischen Kostüme von Catherine und Sarah Leterrier waren so beliebig, dass man den Eindruck hatte, sie kämen aus dem Theaterfundus. Lady Macbeth sang ihre erste Arie in einem Klimt-Kleid der Wiener Werkstätte, das wir schon einmal in Tatianas Briefszene gesehen haben. Das Veronese-Samtkleid im zweiten Akt kannten wir schon aus einer „Tosca“ und das Nachthemd im dritten Akt aus einer „Lucia“. Das war alles geschmackvoll und passte auch irgendwie zur Handlung – in heutigen Zeiten schon viel! – aber leider beschränkten der Regisseur und sein Team ihre Arbeit darauf, um für jede Szene ein „Bild“ zu stellen, wo der Solist vorne vor dem Dirigenten seine Arie singen konnte. Es war also „Rampentheater“, so wie wir es 2016 in einer „Neu-Inszenierung“ nicht erwarten. Doch die Sänger fühlten sich offensichtlich wohl und waren – wie fast immer in Marseille – von großem Format.
Das Format einer Lady Macbeth erkennt man schon bevor sie ihre erste Note singt – nämlich in der Art und Weise wie sie den Brief von Macbeth liest. Für viele Sängerinnen ist der Brief nur ein Rezitativ, das sie so schnell wie möglich vor ihrer ersten Arie abspulen; für andere ist es ein Schlüssel-Moment der Figur, in der sich plötzlich eine ungezügelte Leidenschaft entfacht. Nach nur wenigen Worten wusste man schon, dass Csilla Boross eine ganz große Lady ist. Die temperamentvolle Ungarin scheint stimmlich eine geborene Verdi-Sängerin zu sein und hatte nicht die geringste Mühe mit dieser ellenlangen Partie. Von ihrer ersten Arie, „vieni, t’affretta!“, bis zur letzten, der berühmten Nachtwandlerszene, zeigte sie keine einzige Spur von Müdigkeit, keine Schärfe oder Atemlosigkeit – wirklich beeindruckend.
Juan Jesus Rodriguez verfügte als Macbeth ebenfalls über eine große Stimme und immense Kraftreserven. Der Dritte im Bunde war der exzellente Banquo von Wojtek Smilek, der schon viele Bass-Rollen an der Wiener Staatsoper gesungen hat. Beeindruckend auch Xin Wang als Malcolm, Vanessa Le Charlès als Gefolgsdame der Lady und Jean-Marie Delpas in allen vier kleinen Nebenrollen. Der Tenor Stanislas de Barbeyrac hatte als Macduff nur eine einzige Arie, doch die sang er so nuanciert und als einziger Solist auf „Belcanto“-Art, dass sie zum musikalischen Höhepunkt des Abends avancierte.
Auf die Frage, was man einem Dirigenten für einen „Macbeth“ raten könnte, meinte die „Macbeth“-Dirigentin an der Wiener Staatsoper Simone Young: „Drei Dinge: 1. Sich unbedingt um den Chor kümmern, denn manche Stellen sind mörderisch schwer, 2. Den Mut haben, um die Generalpausen zu halten und 3., Locker bleiben – in Wahrheit stirbt keiner“. Alle drei Dinge fielen dem alter Routinier Pinchas Steinberg, der schon viel in Wien dirigiert hat, nicht schwer. Steinberg leitete souverän das Orchester und den Chor der Opéra de Marseille, auch wenn er – für unsere Ohren – den Sound dabei oft zu mächtig aufdrehte. Doch vielleicht tat er das auch, um die grölenden und inzwischen schwer besoffenen Fußballfans zu übertönen, die man sogar im Opernhaus noch hören konnte. Im „Himmel“ und in der „Hölle“ spielte man zur gleichen Zeit „Macbeth“– aber nicht unter den gleichen Bedingungen! Im September wird die nächste Spielzeit eröffnet mit „Hamlet“ von Ambroise Thomas, wieder eine Oper nach Shakespeare. Doch dann wird sich in Marseille sicherlich alles wieder beruhigt haben…
Waldemar Kamer 10.6.16
Besonderer Dank an MerkerOnline (Paris)
Fotos (c) Opéra de Marseille / Christian Dresse