Vorstellung am 13.02.2022
Poulencs Oper LES DIALOGUES DES CARMÉLITES stellt eines der Werke dar, an deren Ende eigentlich auf Applaus verzichtet werden sollte. Zumindest sollte man eine Schweigeminute erwarten dürfen. Nicht so gestern Abend in Zürich: Kaum war der schwarze Zwischenvorhang gefallen und alles Licht im Saal erloschen (das war vom Inszenierungsteam sehr sensibel intendiert!), liess der unsensiblere Teil des Publikums Applaus und Bravi-Rufe aufbranden. Ja sind wir denn schon so weit gekommen und dermassen abgestumpft, dass uns der tragische Märtyrertod der Karmeliterinnen von Compiègne am Allerwertesten vorbeigeht? Diese mangelnde Empathie ist wahrlich traurig und zutiefst zu bedauern. Das Inszenierungsteam um Jetske Mijnssen (Regie), Ben Baur (Bühne), Gideon Davey (Kostüme) und Franck Evin (Lichtgestaltung) trägt daran keine Schuld. Mit allergrösster Feinfühligkeit hat dieses Team die Oper auf die Bühne gebracht.
Die überragend eindringliche Personenführung durch Jetske Mijnssen kam vor den zumeist kahlen Wänden mit bewegender Eindringlichkeit zur Geltung. Diese Wände waren aber nicht immer kahl. Durch die filmschnittartige Abgrenzung (der Zwischenvorhang wirkte als schwarze Klappe) der einzelnen Bilder voneinander, wurde in den ganz kurzen Pausen auf der Bühne das Kunststück vollbracht, einzelne Wandmodule auszutauschen, da waren plötzlich Fenster und Türen in den Wänden, ein Durchgang zu einem feudalen Ballsaal wurde sichtbar, ein Klosterhof entstand, Licht strömte herein, später durchlebte man die Agonie der sterbenden Priorin, dann wieder befand man sich in der Kapelle oder im brennenden und vom Mob zerstörten Stadtpalais der Familie de La Force, am Ende bildete die Gefängniszelle der Nonnen in der Conciergerie das Setting für den Märtyrertod der Nonnen durch die Guillotine. Ihre bürgerlichen Namen waren mit Kohle an die Wände geschrieben. Sie standen eng zusammen, intonierten das Salve, Regina. Doch eine nach der anderen musste ihren Kopf auf das Schafott legen (das wurde natürlich nicht gezeigt, denn auch in den Regieanweisungen Poulencs steht geschrieben, dass nur der untere Teil des Schafotts sichtbar sein solle). Jetske Mijnssen hat nun einen noch beklemmenderen Inszenierungsansatz gefunden: Zu dem von Poulenc einkomponierten Niedersausen des Fallbeils neigt eine Nonne nach der anderen den Kopf, schreitet zur Wand, tilgt ihren Namen mit der Hand von der Wand und geht langsam ab. Am Ende bleibt die junge Soeur Constance (die zuerst gegen den Märtyrertod gestimmt hatte, diesen nun aber fast freudig erwartet) alleine zurück. Blanche (die sich zuvor ins brennende Haus ihres Vaters geflüchtet hatte) nähert sich Constance, ergreift ihre Hand und begibt sich dann nach dem Fallen von Constances Kopf als letzte zur Guillotine, das Deo patri sit gloria auf den Lippen. Die Vorhersage, welche Constance in einem Disput mit Blanche an der aufgebahrten Leiche der Priorin im zweiten Akt gemacht hatte, hat sich nun erfüllt: "… cette autre, lorsque viendra l’heure de la mort, s’étonnera d’y être si facilement, et de s’y sentir comfortable."
Das erwähnte Niedersausen des Fallbeils, welches Poulenc so wirkungsvoll in seine Partitur einkomponiert hatte, wurde an diesem Abend in Zürich nicht ganz so eindringlich hörbar. Tito Ceccherini am Pult der nicht ganz patzerfrei spielenden Philharmonia Zürich bevorzugte eher den oberen Dezibelbereich, so dass viele Feinheiten der Partitur zugunsten der aufgepeitschten Dramatik zu kurz kamen. Leider wirkten sich diese lauten Orchesterwogen von Poulencs eigentlich sehr subtil instrumentierten und feinfühlig gesponnenen Partitur negativ auf einige Sängerinnen aus, die dadurch (meist in höheren Lagen) zu unschönem Forcieren neigten.
Vor allem Alice Coote als Mère Marie de l’Incarnation und Inga Kalna als Madame Lidoine, die neue Priorin, klangen oftmals schrill und damit unpassenderweise hysterisch. Klar, beide durchschreiten – wie alle Karmeliterinnen – Gewissens- und Zielkonflikte, sind erschüttert in ihrem Glauben, fechten innere Kämpfe aus. Doch diese schreiende Hysterie passt da nicht wirklich und sie hätten es auch nicht nötig, denn beide Sängerinnen verfügen über schöne, warme Mittellagen. Auch Evelyn Herlitzius als Madame de Croissy tendierte zu solchen bellenden Exaltiertheiten, doch bei ihr nahm man das eher in Kauf, da sie als Priorin in einer Agonie, einem ganz schrecklichen Todeskampf gefangen war. Zudem war ihre darstellerische Gestaltungskraft regelrecht unter die Haut gehend. All diese Hauptrollen wurden von Rollendebütantinnen gesungen, somit kann es sein, dass vieles der Premierennervosität geschuldet war. Auch für die Sängerin der Blanche war es ein Rollendebüt, und was für eines: Olga Kulchynska singt die von Angst getriebene junge Adlige mit grandioser Eindringlichkeit, wunderschön ihre Bögen, herrlich warm und beseelt klang ihre Stimme. Auch Sandra Hamaoui zeigte als unbeschwerte, mit jugendlicher Verspieltheit ausgestattete Soeur Constance (ebenfalls Rollendebütantin) eine begeisternde Leistung. In kurzen Soli zu erleben waren auch die wunderbare Liliana Nikiteanu als gebrechliche Soeur Jeanne und Freya Apffelstaedt als Soeur Mathilde. François Piolino verlieh dem Beichtvater des Karmel deutliches Profil (seine feige Flucht sah man nicht, da die schaulustige Menge im Schlussbild zugunsten der Konzentration auf die Märtyrerinnen nicht sichtbar war, hier klang seine Stimme aus dem Off). Grossen Effekt bewirkte auch, dass Jetske Mijnssen die die Schleifung des Klosters verkündenen Kommissareebenfalls aus dem Off singen liess. Einzig der Kerkermeister trat als "Vertreter" des Terrorregimes der Jakobiner physisch in der Conciergerie auf: Valeriy Murga trug das Schreckensurteil des Revolutionstribunals mit mitleidloser Kraft vor (begleitet von eine unheimliche Stimmung verbreitenden Fackelträgern). Im ersten Bild hatte Nicolas Cavallier als Blanches Vater (Marquis de La Force) einen starken Auftritt, zeigte sich unbeeindruckt von der sich ankündigenden Revolution, wie auch die in diesem Bild als quasi auf dem Vulkan ihre Menuette und Bourrées tanzende Adelsgesellschaft. Thomas Erlank beeindruckte mit seinem sicher geführten Tenor als Blanches Bruder.
DIALOGUES DES CARMÉLITES ist eine wichtige Oper, sie gehört unterdessen längst zum (zumindest erweiterten) Standardrepertoire der Opernhäuser und ist eine der ganz wenigen Opern aus der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich diesen Platz erobern konnte. Allerdings ist sie in Zürich (wie viele anderen Opern aus dieser Zeit) trotz ihres tonalen Grundduktus und der packenden, bewegenden Story eher Kassengift, das heisst, das Werk lockt doch meist nur Kenner (und Abonnenten) ins Haus. An der Premiere blieben erschreckend viele Plätze unbesetzt. Die letzte Neuinszenierung ist erst 18 Jahre her (Dirigent: Michel Plasson, Regie: Reto Nickler), sie wurde meines Wissens nach der Premierenserie nie wieder aufgenommen. Der Intendant, Andreas Homoki, hat natürlich Recht, wenn er im Magazin des Opernhauses erklärt, dass es wichtig sei, dass man die grossartigen Randwerke des Repertoirs auch spielt. Dem kann man nur beipflichten. Weshalb dann aber schon wieder die CARMÉLITES, wenn man in den letzten Jahrzehnten keinen Krenek, keinen Henze, keinen Philip Glass (die Liste liesse sich fortsetzen …) zeigte? Bleibt zu hoffen, dass sich diese starke Neuinszenierung länger halten wird als die letzte und dass sich so dieses überwältigende Werk stärker im Bewusstsein des Zürcher Publikums festsetzen wird.
Kaspar Sannemann, 17.2.22
Bilder (c) Herwig Prammer