Zürich: „Amerika“, Roman Haubenstock-Ramati

Opera – The Art of Emotions …… so heißt es im Logo einer Facebookgruppe für Melomanen. Und tatsächlich ist die Oper seit gut 400 Jahren wohl die Kunstform, welche mit ihrer Verbindung von Handlung und Musik, von Wort und Ton und im besten Fall auch unter Einbezug von Bühne, Kostüm, Licht, Schauspiel und gar Tanz ein Füllhorn an Emotionen auszuschütten versteht wie wohl kaum eine andere Kunstform. Komponisten von Monteverdi, über Händel, Mozart, Bellini, Verdi, Wagner, Puccini bis zu Strauss, Berg, Poulenc und hin zu den Zeitgenossen Benjamin und Tobias Picker (mit Lili Elbe in St. Gallen) haben diese spezielle Kunstform zum Blühen gebracht, das Publikum gerührt, bewegt, verzweifeln lassen, es zum Lachen oder Weinen gebracht.

© Herwig Prammer

Haubenstock-Ramatis Oper Amerika wurde bereits vor knapp 60 Jahren uraufgeführt, löste gewaltige Proteste aus (damit hat sie schon mal einen Punkt, was das Evozieren von Emotionen anbelangt!), wurde bald abgesetzt, verschwand in den Archiven des Verlags, wurde leicht umgearbeitet und in Graz und in Bielefeld erneut zur Diskussion gestellt – mit wenig Nachhall. So war man gespannt, ob die komplexe Partitur der Oper (abgesehen von der musikhistorischen Bedeutung) das emotionale Versprechen wird einlösen können, welches der Titel „Oper“ (Haubenstock-Ramati schreibt selbst auf die letzte Seite der Partitur ‚Ende der Oper‘) insinuiert.

Als Vorbereitung auf diesen sehr speziellen, neugierig machenden Opernabend habe ich das Romanfragment Der Verschollene von Franz Kafka gelesen. Die Emotionen brachen gewaltig über mich herein: Vor allem Gefühle des Ärgers, der Wut und der Verzweiflung über diesen Menschen Karl Rossmann, den ich am liebsten geschüttelt und wachgerüttelt hätte. Was für ein gutgläubiger, naiver Träumer, der das Unrecht und die Misshandlungen in seiner fatalistischen Gutgläubigkeit (Hörigkeit) wie ein Magnet anzieht. Ich habe das kaum ausgehalten. Doch wie ging Haubenstock-Ramati damit um? Provoziert er mit seiner Oper bei mir dieselben Emotionen wie Kafka? Weitet er sie gar aus oder verstärkt er sie? Finden sie auf einer anderen Ebene statt?

© Herwig Prammer

Begonnen hat der 110 Minuten dauernde, pausenlos ablaufende Abend überaus vielversprechend. Die Klänge aus den Lautsprechern (über 60 sollen es sein, die Klangregie verantwortete Oleg Surgutschow, das stupende Klangdesign entwickelte Raphael Paciorek) führten mich in eine leicht unheimliche Klanglandschaft; das quasi 360° rundum Klangerlebnis durch Geräusche und Klangfetzen von eingespielter Musik und der Akzentuierung durch das Liveorchester im Graben (die Philharmonia Zürich unter der Leitung von Gabriel Feltz), das Einspielen von Chorstimmen gepaart mit den Stimmen der beiden Sprecher auf der Bühne, welche Sätze und Bruchstücke Kafkas ins Rund warfen, hatte etwas Magisches. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch die wundersame, kraftvolle und gewaltige Bilderwelt, in welche mich diese starke Inszenierung von Sebastian Baumgarten, mit der faszinierenden Bühnengestaltung und den dramaturgisch beeindruckenden Kostümen von Christina Schmitt, den brillanten Video-Projektionen von Robi Voigt, dem Lichtdesign von Elfried Roller und der geradezu bannenden Choreographie von Takao Baba (ausgeführt von den zwölf unheimlich ausdrucksstarken Tänzer Solomon Quaynoo, Yvonne Barthel, Pouria Abbasi, Natalie Bury, Kemal Dempster, Theodor Diedenhofen, Steven Forster, Evelyn Angela Gugolz, Michaela Kvet, Elisa Pinos Serrano, Anna Virkkunen und Oriana Zeoli) warf. Man erlebte das Versinken der alten Welt (Krieg), aus welcher Karl Rossmann verstossen wurde, das Ankommen in der neuen – auch nicht gerade heilen – Welt mit beklemmender Intensität mit. Schnell wurde klar, dass die hehren, auf den Gazevorhang projizierten Präambeln zur amerikanischen Verfassung nichts als hohle Phrasen sind. Während sich jedoch eine Nähe zu den Figuren kaum einzustellen vermochte, da Haubenstock-Ramati die 25 Szenen ausgesprochen kurz gehalten und zudem auf eine musikalische Charakter- und Gefühlszeichnung verzichtet und stattdessen den Handelnden weitgehend einen künstlich anmutenden Sprechgesang aufoktroyiert hatte, rückten die kafkaeske Klaustrophobie und die Verlorenheit des Menschen in unheimlichen, ausweglosen Labyrinthen des Daseins in den etwas längeren orchestralen Intermezzi mit beklemmender Intensität ins Bewusstsein. Diese Szenen, vor allem die Nr. 9 (Vermutungen über ein dunkles Haus), wurden vom Inszenierungsteam mit fantastischer, geradezu gespenstischer Eindringlichkeit umgesetzt. Je weiter jedoch das Stück voranschreitet, desto müder und überdrüssiger wird man des verzerrten, stockenden und immer leicht affektierten Sprechgesangs. Das nervte mich mit der Zeit gewaltig. Einzig bei den weiblichen Partien ist so etwas wie eine Melodie auszumachen, bei der kämpferisch brutalen Klara, der Mojca Erdmann ihre ausdrucksstarke Stimme leiht (sie „spricht“ auch die Rolle der sanfteren Therese) und natürlich bei der Sängerin Brunelda, der Haubenstock-Ramati einen Glamour-Auftritt mit einer verzerrten Koloraturarie gönnt (Alison Cooke macht das mit Bravour). Bei diesen Gesangspartien dringt die Tonsprache durch, die man von einer Oper aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Nachgang zur Darmstädter Schule erwartet: Lauter hysterisch klingende Intervallsprünge. Paul Curievici als Karl Rossmann ist praktisch pausenlos auf der Bühne, führt die zum Teil slapstickartigen Bewegungen mit stupender Natürlichkeit aus, und gestaltet den Sprechgesang mit grosser Selbstverständlichkeit. Eine starke Leistung. Seine „Gegenspieler“ sind Ruben Drole (als ungemein gestrenger Onkel Jakob, als eingebildeter Oberportier, als geckenhafter Direktor des Naturtheaters von Oklahoma), Robert Pomakov (als Heizer, als Pollunder – im texanischen „J.R.Ewing“-Outfit, als Robinson), Georg Festl (als Delamarche, als Oberkellner im Hotel Occidental, als Personalchef des grossen Naturtheaters).

© Herwig Prammer

Des Weiteren erlebt man Irène Friedli als Oberköchin (eine der wenigen Figuren, die es mit Karl gut meinen), Benjamin Mathis als Sprecher 1 und verfilzter Student, Sebastian Zuber als Sprecher 2 und Wahlkandidat. Gerade diese Szene mit dem Wahlkandidaten ist Baumgarten herrlich geglückt. Wie sich der in seinen Wahlversprechungen verliert und am Ende nur noch unverständliches Zeugs aus seinem Munde quillt – wie weiland bei Trump in seinem „covefe“- Tweet – ist umwerfend umgesetzt. Am Ende, im grossen Naturtheater von Oklahoma, gleitet die Inszenierung dann in Sphären, die Kafka in seinem Fragment nicht mehr ausgeführt hatte. Es kommt zu Pantomimen mit Comic- und Fantasyfiguren (die drei Weisen aus dem Morgenland könnten aus einem Harry-Potter-Film stammen), Maria und Josef klopfen an Herbergstüren, ein Frosch, ein Maulwurf, ein Adler scharen sich um die Krippe, Karl erkennt wohl, dass er sich in Amerika zum Esel gemacht hatte und setzt sich diesen Tierkopf auf. Mehrmals senkt und hebt sich der schwarze Vorhang und es präsentieren sich neue Tableaux vivants, einmal auch der Hügel von Golgatha oder der Grenzzaun zu Mexiko. Himmel und Hölle des „American Dream“.

Um auf die eingangs gestellter Frage zurückzukommen: Hat mir die Oper neue Ebenen von Kafkas Roman erschlossen? – Nein. Hat sie mich emotional irgendwie berührt, bewegt, erzürnt? – Nur sehr eingeschränkt. Würde ich sie mir gerne nochmals zu Gemüte führen? – Eher nein.

Kaspar Sannemann, 8. März 2024


Amerika
Roman Haubenstock-Ramati
Libretto vom Komponisten
nach Franz Kafkas Romanfragment Der Verschollene

Opernhaus Zürich

Premiere am 3. März 2024

Regie: Sebastian Baumgarten
Dirigat: Gabriel Feltz
Philharmonia Zürich 

Trailer

Weitere Aufführungen in Zürich: 3.3. | 6.3. | 9.3. | 15.3. | 24.3. | 6.4. | 13.4.2024