Ballettdirektor Christian Spuck hat sich für die letzte von ihm verantwortete Premiere etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Er präsentierte Werke dreier Choreografen Generationen, „On the Move“ choreografiert von Ballettlegende Hans van Manen, „TAL“, choreografiert vom jungen, talentierten Louis Stiens und Spuck selbst, als der mittleren Generation angehörend, präsentierte mit „Lontano“ ein neues Werk mit seiner Handschrift. Zusammengefasst wurden die drei ganz unterschiedlichen Kurzchoreografien unter dem Titel von Hans van Manens Ballett „On the Move“. Denn die Bewegung mit inhärentem Abschied kennzeichnen die drei Werke.
Hans van Manen hatte sich für seine 1992 entstandene Choreografie Prokofjews erstes Violinkonzert vorgenommen. Die klassizistische Klarheit und Reinheit des Ausdrucks in der Musik Prokofjews spiegeln sich aufs Allerschönste in van Manens Choreografie und den farblich so sorgsam abgestimmten Trikots von Keso Dekker, sowie in der schlichten, aber ungemein stimmungsvollen und den reinen Tanz so fantastisch ausleuchtenden und unterstreichenden Lichtgestaltung von Joop Caboort. Auf der Bühne erleben wir sieben Paare, jedes ist durch eine andere Farbe der Trikots gekennzeichnet. Zwei Paare erhalten solistische Aufgaben, das rote (Michelle Willems und Matthew Knight) und das schwarze (Katja Wünsche und Jan Casier) Paar.
Die restlichen fünf Paare (Inna Bilash und Cohen Aitchison-Dugas, Francesca Dell’Arie und Jesse Fraser, Chandler Hammond und Daniel Mulligan, Aufrore Aleman Lissitziy und Mark Geilings, Sujung Lim und Loïck Pireaux) brillieren zusammen mit den beiden solistisch eingesetzten Paaren mit formvollendeter Synchronizität, klassischem Bewegungsvokabular, welches fließend einfach erscheint und doch in seiner Ausführung allerhöchste Konzentration, Koordination und Kraft erfordert, aber immer eine berührende Leichtigkeit ausstrahlt.
Van Manens Meisterschaft besteht darin, dass er die Musik, deren melodische Struktur und den Rhythmus im Tanz phänomenal aufnimmt, dabei aber nie in die Falle eines plakativen Verdoppelungseffekts tappt. Prokofjews Musik wird mit bestechender interpretatorischer Einfühlungskunst umgesetzt, verspielte kleinste musikalische Figuren werden durch die Glieder der Tänzer geführt, verleihen dem Tanz subtile Details, ohne den tänzerischen Fluss ins Stocken geraten zu lassen. Das ist Meisterschaft! Rasante, perfekt ausgeführte Schrittfolgen im Scherzo des zweiten und im Allegro moderato des dritten Satzes lassen staunen, die verträumteren romantischen Passagen erhalten durch die fantastischen Tänzer eine bewegende Klarheit und eine geradezu stupende Perfektion und Eleganz. Und wenn sich am Ende das rote Paar von der restlichen Gruppe entfernt, der Mann aber noch kurz stehenbleibt und einen wehmütigen Blick zurück auf seine Kameraden wirft, trifft dies den melancholischen Augenblick des Abschieds genau auf den Punkt.
Prokofjews Violinkonzert wird live gespielt. An welchem anderen Theater kann man sich einen dreiteiligen Ballettabend mit großem live spielendem Orchester noch leisten? Was da aus dem Graben von der Philharmonia Zürich unter der Leitung von Alvetina Ioffe und der phänomenal sauber und traumhaft schön intonierenden Geigerin und ersten Konzertmeisterin der Philharmonia Zürich, Hanna Weinmeister, erklingt, würde jedem Großen Konzertsaal zur Ehre gereichen.
Zu Recht vollkommen anders gerät der zweite Teil des spannenden Abends. Die Bühne (Konzeption: Bettina Katja Lange) ist nun nicht mehr leer, sondern wird von einem Monolithen auf fahrbarem Gestell beherrscht. Dieser Gesteinsbrocken stammt eventuell von einem Meteoriteneinschlag. Jedenfalls strahlt die Choreografie des jungen Louis Stiens eine Art Endzeitstimmung aus. Die Menschen sind nackt (fleischfarbene Ganzkörpertrikots, von Lous Stiens selbst entworfen). Eine Soundcollage (von Michael Utz, auf dem Zürcher Hausberg Uetliberg eingefangen) sorgt für rätselhafte Stimmungen zwischen und vor den Orchesterwerken von Debussy und Ravel.
Die neun Tänzer (Matthew Knight, Katja Wünsche, Leroy Mokgatle, Meiri Maeda, Mark Geilings, Jesse Fraser, Emma Antobus, Jessica Beardsell und Luca D’Amato) bewegen, ja kriechen vorwiegend auf dem Boden oder rutschen in halsbrecherischer Art auf dem Felsbrocken herum. Sie vollführen da oft Figuren mit hohlem Kreuz, wie Schlangenmenschen oder eben Wirbellose. Sind es letzte Überlebende einer Katastrophe, die die Natur neu erkunden oder ist es eine evolutionäre Entwicklung? In keinem Moment jedenfalls verlieren sie die Bodenhaftung, kaum Hebefiguren, schon gar keine Sprünge, dagegen viele angewinkelte Glieder und eben immer wieder die Nähe und den Kontakt zur Erde suchend. Im letzten Teil verdient ein kraftvoller Pas de deux zweier Männer Aufmerksamkeit: Nähe und Ablehnung liegen ganz nah beieinander, das ist ausgesprochen kunstvoll und energiegeladen choreografiert.
Die Musik Debussys und Ravels wird von der Philharmonia Zürich unter der Leitung von Alvetina Ioffe sehr stimmungsvoll die impressionistischen Klangräume aushorchend interpretiert. Im dritten Teil kuscheln sich die nackten Wirbellosen in eine Mulde des Felsens – sie suchen Geborgenheit. Ein nachdenklich stimmendes Stück, rätselhaft, aber originell.
Ein wenig Wehmut kommt auf: Während elf äußerst erfolgreicher Jahre hat Christian Spuck das Ballett Zürich geleitet und zu einem Publikumsmagneten gemacht. Die Ballettvorstellungen haben eine höhere Auslastung erreicht als die meisten Opernproduktionen, das will etwas heißen. Nicht nur seine eigenen abendfüllenden Handlungsballette feierten Riesenerfolge; Spuck hat immer wieder Gastchoreografen eingeladen, welche ebenfalls sensationelle Ballettabende. Gestern nun präsentierte er seine letzte Arbeit für sein Ballett Zürich, die letzte Ballettpremiere der Spielzeit wird er seiner Nachfolgerin Cathy Marston überlassen.
Natürlich war es sein Anliegen, nochmals all die fantastischen Künstler mit denen er in den vergangenen Jahren so erfolgreich zusammengearbeitet hatte, in sein Kurzchoreografie einzubinden.
Die Ästhetik seiner Choreografien in Zürich wurde oft geprägt von seiner bevorzugten Kostümbildnerin Emma Ryott und dem Bühnenbildner Rufus Didwiszus. Diese vertrauensvolle Zusammenarbeit wurde fortgesetzt. Didwiszus hat eine kippbare, mit Leuchtröhren umrandete Decke konstruiert, welche die Szene beherrscht. Die ganz in Petrol und Flaschengrün gehaltenen Kostüme waren von großer Schlichtheit und betonten die Körpersprache der 31 auf der Bühne auftretenden Tänzer Das war alles sehr ästhetisch anzusehen, wie sie sich um den halbnackten, tätowierten Daniel Mulligan scharten, immer wieder zu kunstvoll arrangierten Gruppen- und Paartänzen fanden. Intimität und Kraft hatten ihren Platz.
Spuck liess die flächige Musik, welche Ligeti in „Lontano“ komponierte, mit John Zorns „Kil Nidre“, Alice Sara Otts 2“Lullaby to Eternity“ und einem Pélude von Chopin kontrastieren. Meiner Ansicht nach wurde so die Wirkung von Ligetis aufgefächertem Klangteppich, diesem faszinierenden schwebenden Klangraum ohne Rhythmus und Melodie, relativiert. Ich verstehe die Absicht, aber bin vom Ergebnis nicht restlos überzeugt. Ligetis Musik in Körperlichkeit umzusetzen erweist sich meines Erachtens als sehr schwierig; zu bewegt geriet die Choreografie, konterkarierte so die Bewegungslosigkeit der Musik, wirkte leicht beliebig. Vieles war ausgesprochen schön und ästhetisch anzusehen, vor allem das Ende in absoluter Stille war sehr berührend. Mir wurde allerdings nicht ganz klar, wohin der Tanz zielte. Es ging mir wie beim Anhören der Musik: Man weiß, da ist etwas, aber was dieses Etwas ist, wird nicht ganz klar. Klar wurde hingegen, dass man die Dirigentin Alvetina Ioffe gerne wieder in Zürich erleben möchte. Auch der Ligeti erklang mit grandioser Gestaltungskraft – eine Musik, die man am liebsten nur konzertant und nicht vertanzt erleben möchte.
Kaspar Sannemann 15. Januar 2023
Opernhaus Zürich
14. Januar 2023
„On the Move“
Choreographie: Hans van Manen | Musik: Sergej Prokofiew
„TAL“
Choreographie: Louis Stiens | Musik: Claude Debussy, Maurice Ravel
„Lontano“
Choreographie: Christian Spuck | Musik: Györgi Ligeti, John Zorn, Frédéric Chopin, Alice Sara Ott
Dirigat: Alvetina Ioffe
Philharmonia Zürich