Mit dem Song Live is Live landete die österreichische Band Opus einst einen internationalen Hit – und meinte mit dem Titel, dass nur „live“ Erlebtes eben das wahre Leben sei. Diese Einsicht lässt sich getrost auf das Musiktheater übertragen, insbesondere auf die gestrige „quasi“ Premiere von Offenbachs Meisterwerk am Opernhaus Zürich. „Quasi“ des deshalb, weil die Premiere zwar bereits im April 2021 stattgefunden hatte, allerdings mitten in der Pandemie, ohne Publikum und deshalb nur per Streaming in die Wohnzimmer der Menschen gelangt war.

Jetzt gut vier Jahre später kommt diese fantastische Produktion dieser fantastischen Oper erstmals live und vor Publikum im fast voll besetzten Saal des Opernhauses Zürich zur Aufführung. Wie man weiter unten auf einem meiner Links nachlesen kann, war ich schon am TV begeistert – doch kein Vergleich mit dem prallen Live-Erlebnis gestern Abend. Dieses packende, unterhaltsame, mit viel Witz und augenzwinkernder Groteske mit schauerromantischem Einschlag inszenierte letzte (und unvollendete) Werk aus der Feder Offenbachs geriet zu einem begeisternden theatralischen Fest, zu einem Triumph auch für den abtretenden Intendanten und Regisseur Andreas Homoki und das gesamte Ensemble auf, vor und hinter der Bühne.
Das Faß: Wie oft bei Andreas Homokis Konzeptionen stehen singuläre geometrisch-abstrakte oder reale Elemente (die eindrückliche Gestaltung der Bühne stammt diesmal von Wolfgang Gussmann) im Zentrum seiner Inszenierungen. Im ersten Akt ist dies ein Weinfass, das natürlich gut zur Stimmung in Luthers Weinkeller passt, aber in welchem natürlich auch der Alkohol, das Antriebsmittel des Dichters, schlummert. Deshalb bleibt das Fass dann auch in den folgenden Akten am Bühnenrand stehen. Aus diesem Fass entsteigt die Muse, die sich in Nicklausse verwandelt und zur ständigen Begleiterin/zum Begleiter des Künstlers durch all die wenigen Höhen und die abgründigen Tiefen seiner Lebens- und Liebeserfahrungen wird. Marina Viotti gestaltet ihre umfangreiche Rolle mit all der burschikosen Wucht ihres klangstarken, im fast gebrüllten „Je briserai la chaîne qu’il porte au cou! Ah!“ im Auftrittscouplet, übernahm sie die Ausrufezeichen des Textes in ihre dynamische Gestaltung), aber wo geboten auch agilen Mezzosoprans. Ihre Bühnenpräsenz ist beeindruckend. Das ist keine edle, sanfte Muse, sondern eine bodenständig-resolute Göttin, welche den vom Alkohol benebelten Dichter in ihrem finalen „On est grand par l’amour et plus grand par les pleurs!“ auf den Weg des großen Künstlers weist.

Das Sofa: Doch dazu muss dieser Künstler diverse Stationen des Lebens, der Tragik, der Enttäuschung durchlaufen. Der Fokus auf diese Situationen wird mittels einer sich öffnenden, Rauten artigen Blende ermöglicht, welche den Blick auf eine in alle Richtungen kippbare und vorwärts und zurückfahrende weitere Raute mit Trompe-l’œil Boden freigibt. Auf dieser Wippe steht ein Sofa, Mittel- und Angelpunkt für die Auftritte der mechanischen Puppe Olympia, welcher Katrina Galka mit ihrer stupende Koloraturstimme Leben einhaucht. Was für eine atemberaubende Virtuosität, was für eine humoristische Darstellungskraft. So macht Oper Spaß! Dafür bekam sie nach ihrer Arie auch zu Recht verdienten und tosenden Applaus! Daniel Norman gibt einen herrlich durchtrieben-trotteligen Spalanzani, den „Vater“ Olympias. Der Olympia-Akt ist mit seiner inhärenten Komik natürlich ein Bonbon für jeden Regisseur und Homoki schafft großartige, slapstickartige Effekte, welche auch dank der Puppenkleidung, diesem mehrschichtigen Cancan – Rock, urkomisch funktionieren (die leicht überzeichneten Kostüme haben Wolfgang Gussmann und Susana Mendoza entworfen).
Der Flügel: Der dritte Akt ist der mit der ergreifendsten Musik dieser an Melodien so überreichen Oper. Hier sitzt, nachdem Docteur Miracle die Blende geöffnet hat, Antonia am Flügel und singt, das Porträt ihrer verstorbenen Mutter vor Augen, ihre Romanze Elle a fui, la tourterelle. Adriana Gonzalez besitzt eine biegsame Sopranstimme mit üppigem, sattem Timbre, „a lush voice“, wie die Engländer sagen würden. Viele mögen vielleicht in dieser Partie eine ätherische, jungmädchenhafte Stimme, doch persönlich fand ich Frau Gonzalez mit ihren luxuriös aufwallenden Phrasen ganz wunderbar besetzt, ein starkes Rollendebüt jedenfalls. Eindringlich auch Judith Schmid als Erscheinung der Mutter, die Stimme aus dem Grab, welche das sich grandios hochschraubende Terzett Chère enfant que j’appelle Antonia – Dr. Miracle – Mutter mit ihrem satten Mezzosopran wunderbar bereicherte. Andrew Foster-Williams ist dieser dämonische Docteur Miracle, legt Autorität, Verführungskunst und blanken Hohn in seine Stimme, ein mephistophelischer Charakter, den er auch in den restlichen Akten als Lindorf, Coppélius und Dapertutto offenbart. Sein Bariton klingt nicht allzu schwarz, doch gelingt es ihm, die Boshaftigkeit seines Agierens eindringlich zu akzentuieren. Nathan Haller liefert als schwerhöriger Diener Frantz mit seinem Couplet Jour et nuit ein virtuoses vokales und darstellerisches Kabinettsstückchen ab. Genauso vermag er im vorangehenden Akt als Cochenille, im ersten Akt als einsilbiger Andrès (Oui, Non) und im vierten Akt als unheimlicher, grotesker Pitichinaccio zu begeistern. Großartig ist auch Stanislav Vorobyov als Antonias besorgter Vater Crespel besetzt, der seinen runden, balsamischen Bass herrlich strömen lassen kann. Am Ende dieses Aktes folgt ein veritabler Coup de théâtre. Mehr verrate ich nicht, das muss man gesehen haben!
Der Kristalllüster: Auch wenn in der hier (und heutzutage meist, da auf neuesten Forschungsergebnissen beruhend) verwendeten Kaye/Keck Fassung von Hoffmanns Erzählungen die berühmte Diamantenarie im Venedig-Akt gestrichen ist, funkelt es in dieser Inszenierung doch, da der über dem Trompe-l’œil Boden sich leicht drehende Kristalllüster für diesen Effekt besorgt ist. Überhaupt ist die gesamte Lichtgestaltung durch Franck Evin einmal mehr zu loben. Das spuk- und alptraumhafte der Erzählungen Hoffmanns sind atmosphärisch überaus plastisch herausgearbeitet. Unter dem Lüster sehen wir, nachdem Nicklausse die berühmte Barkarole angestimmt hatte, die Kurtisane Giulietta, welche in den Gesang miteinstimmt, und die beiden Mezzosoprane vereinigen sich aufs Schönste in den wiegenden Phrasen. Lauren Fagan verleiht der Figur der zwielichtigen Giulietta einen gekonnt ordinären Klang. Den Nebenbuhler Hoffmanns, Schlémil, wird von Samson Setu dargestellt.

Nun ist es aber höchste Zeit, auf den Titelhelden Hoffmann zu sprechen zu kommen: Für die überwältigende Leistung Saimir Pirgus in dieser anspruchsvollen und umfangreichen Partie kann man kaum Worte finden. Er bewältigt die Rolle mit einer Souveränität, die beglückt und erstaunt. Ohne jegliche Ermüdungserscheinungen agiert er fünf Akte lang auf der Bühne, und ja, er agiert wirklich und steht nicht einfach herum. Was er mit seiner Stimme alles auszudrücken vermag, ist schier unfassbar. Wie er sich aus einem Parlando Ton zu berückender Emphase hochschwingen kann, wie er die dynamische Bandbreite von Voix mixte bis zu tiefster Verzweiflung im fortissimo auskostet, das ist alles einfach stupend! Pirgu ist einer jener Sänger, deren Stimme direkt aus dem Herzen strömt, die jede Phrase vom Text durchdrungen zu interpretieren vermögen.
Diese Differenzierungskunst praktizieren auch Antonino Fogliani und die Philharmonia Zürich. Offenbachs Musik erhält durch das Dirigat Foglianis genau die federnde Spritzigkeit, die sie braucht; sie bekommt den Drive, der die Handlung vorwärtsbringt und – wo geboten – das farbenreiche, poetische Verweilen. Der exzellente Chor der Oper Zürich setzt diese teils temporeichen Vorgaben in den chorischen Passagen mit Genauigkeit der Intonation und rhythmischer Präzision um.
Die Besetzungsliste dieser Opéra fantastique ist lang, doch alle verdienen sie erwähnt zu werden: Valeriy Murga (Luther), Steffan Lloyd Owen (Hermann), Christopher Willoughby (Nathanaël), Maximilian Lawrie (Wolfram), Lobel Barun (Wilhelm/Le Capitaine des Sbires) und last but not least die Frau, die alle anderen drei Geliebten Hoffmanns in sich vereint: Stella, gesungen von Maria Stella (!) Maurizi, welche in den beiden Außen Akten auftritt, aber nur im Schlussakt eine Phrase singen darf. Doch diese eine Phrase ließ aufhorchen! (Wäre es Offenbach bloß vergönnt gewesen, den Akt fertig zu stellen!)
Wie sang doch die Band Opus (neben viel na na na na naaa …):
When we all give the power
We all give the best
Every minute of an hour
Don’t think about the rest
And you all get the power
You all get the best
An diesem Abend hat das Publikum tatsächlich das Beste bekommen.
Kaspar Sannemann 30. Juni 2025
Hoffmanns Erzählungen
Jacques Offenbach
Opernhaus Zürich
28. Juni 2025
Regisseur: Andreas Homoki
Dirigat: Antonino Fogliani
Philharmonia Zürich