„Es ist ein solcher Genuss.“ Die Meinung einer Besucherin, geäußert vor dem zweiten Teil, ist einhellig, die Begeisterung zumal für den Hauptrollensänger des Abends, Jakub Orliński, nicht minde. Man sieht’s ja schon daran, dass er selbst dann, wenn er nur am Spielfeldrand sitzt und (stumm?) mitsingt, fotografiert wird. Die Frau, die vor dem Rezensenten saß, hatte jedenfalls auch dann ihre Freude, wenn es eher ums Optische als ums Akustische ging. Ein Oratorium ist schließlich keine Oper, auch wenn es für die Sänger einer konzertanten Aufführung unmöglich ist, nicht zu agieren, denn zu sehen gibt es doch etwas.

Schon seinerzeit, zu Beginn der 30er Jahre des 18. Jahrhunderts, war Händels Deborah ein in einem Theater uraufgeführter Erfolg. Das Werk, ein aus der finanziellen Not geborenes Pasticcio (die Londoner Opern-Konkurrenz begann sich durchzusetzen), bestand zwar fast ausschließlich aus älterer Musik, aber wer kannte schon die bis zu 25 Jahren alten Stücke? Und wer kennt sie heute? Einige Händel-Spezialisten – aber Händel ist ein populärer Komponist aus jener Szene, die einmal „alte Musik“ hieß. Wer heute ein Händel-Oratorium oder eine seiner Opern aufs Programm setzt, kann damit rechnen, einen guten Zulauf zu haben. So und nicht anders bei der Musica Bayreuth, die mit dem Großwerk so etwas wie einen Vorgeschmack auf das Festival Bayreuth Baroque lieferte, in dem Händel mit einer Oper (dem Flavio) bislang ein seltener Gast war, wie überhaupt, angesehen vom Messias, die Oratorien des Meisters – die frühen wie die späten – im Konzertleben der Musikstadt Bayreuth seltenst begegnen. Wenn dann noch ein Name wie Ton Koopmann (aber wer ist schon „wie“ Ton Koopmann?) auf dem Zettel steht, ist der Erfolg gewiss – denn Händel packt, versehen mit einer exzellenten Besetzung, ja immer. Und wer wollte, konnte sich in just jene Zeit hineinimaginieren, in der die in den frühen 30er Jahren nach Bayreuth verheiratete Markgräfin Wilhelmine in die Stadt kam, in der sie ein Opernhaus initiierte, das bis heute für den Ruhm der Weltkulturerbestadt einsteht.
Das Haus klingt immer mit. Seine Akustik ist sehr trocken, eine einsame Laute hat ihre Schwierigkeiten damit, durchzudringen, aber die Orchesterbesetzung des Amsterdam Baroque Orchestra und seines Chors ist, zumal mit den zu den Triumphen aufspielenden Blechbläsern und der Pauke, groß genug, um den Raum zu füllen. Koopman kommt, man macht am Abend darauf aufmerksam, von der Orgel her, er bietet eine klar strukturierte, klanglich akzentuierte und mit einem angenehmen, Rauheiten vermeidende, mit einem Wort: schöne Aufführung, allerdings ohne die nachkomponierte Ouvertüre. Die Vokalsolisten, bei aller Verschiedenheit der Stimmen, gliedern sich harmonisch ein: Orliński als Barak, mit seinem sanft-hellen wie beweglichen, zu Lyrismen aller Art ausgelegten Countertenor, Sophie Junker in der Titelrolle, einem dramatischen, doch nicht schollernden, weil immer gestaltenden Sopran, mit dem deklamatorisch wie charakterstark auftretenden (Spezialgebiet: heftige Erregung) Bass Wolf Matthias Friedrich, auch mit Sophia Patsi in der Rolle der Sisera, die ihren letzten Auftritt im letzten Stück vor der Pause hat, dem größten, aus dem Quartett und dem Chor zusammengefügten Ensemble. Ansonsten regiert vorwiegend das Schema von Rezitativ und Arie das Werk, aber da es keine Oper ist, hat der Chor Wesentliches zu sagen. Nicht weniger als 12 der 48 Stücke sind ihm übertragen, und wäre nicht Orliński, quasi als Nachfolger des Premierensängers, des berühmten Kastraten Senesino, der „Star“ des Abends, so wäre es vielleicht der Chor. Deborah besteht aus und besticht mit einer Fülle von bemerkenswerten „Nummern“, die gleichsam ins Ohr träufeln; beispielhaft seien nur die Nummern 22 (Deborahs Arie „In Jehovah’s awful sight“) und 25 (Baraks „Impious mortal, cease to brave us!“ genannt: Ersteres ein Adagio mit einem Oboen-Solo über ostinatohaften Vierteln, das Zweite ein empfindsames Largo. Ebenso zauberhaft: „Smiling freedom, lovely guest“, ein Duett mit Solo-Violoncello; Koopmann selbst eröffnet den zweiten Teil des Abends, als Solist an der Orgel sitzend, Orliński begleitend. Das sind so herausragende Einzelteile eines großen Ganzen.

Deborah ist ein Pasticcio, aber dem Publikum kann es egal sein, ob die Musik aus bereits bestehenden Vorlagen zusammengesetzt wurde oder nicht. Für uns klingt Händels Musik immer original, als habe er seine Deborah, zusammen mit dem Librettisten Samuel Humphreys, wie aus einem Guss geschaffen – und hat er es nicht? Hinreißende Aufführungen wie die der Musica Bayreuth machen unmissverständlich klar, dass Händel immer ein Gigant war. Freilich benötigt er dafür auch die richtigen Interpreten. In Bayreuth kamen sie wieder einmal zusammen.
Frank Piontek, 27. Mai 2025
Deborah
Georg Friedrich Händel
Markgräfliches Opernhaus
Musica Bayreuth
26. Mai 2025
Dirigat: Ton Koopmann
Amsterdam Baroque Orchestra