Wahnfried, 29.8.2022
Am 30. Juli 1899 kommt auch sie zum Ort. Am Vortrag war sie angereist, dann besucht sie die wagnerschen Weihestätten, die ihr zumindest teilweise – denn sie ist ein kritischer Kopf – Schauder der Erregung über den Rücken jagen. „Vor dem Frühstück“, schreibt die junge Frau in ihr Tagebuch, „mit Gretl in Wahnfried (…) Wahnfried gefiel mir heute besser wie gestern“. Wir sitzen genau dort, wenn auch in einem Nachkriegsnachbau des Saals, als Kristine Walter die Passage vorliest.
Sie sei, schreibt sie, eigentlich zwei Personen – sie: Alma Schindler aus Wien, die als Alma Mahler-Werfel in die Kulturgeschichte eingehen wird. Die Konzert-Performance in Form eines extrem kurzweilig inszenierten Liederabends aber zeigt, dass Alma Schindler nicht allein in zwei, sondern in drei Personen dargestellt werden kann, vielleicht muss. Die seelischen Enthüllungen und die Professionen der aufgeweckten, stark reflektierenden und zugleich stark empfindenden Frau aus dem gehobenen, der modernen Kunst aufgeschlossenen Wiener Bürgertum finden ihre Entsprechung gleich in drei Gestalten: der Pianistin, der Sängerin und der Autorin. Denn „Alma“ war weit mehr als die Frau und Geliebte mehrerer großer Männer. Wüsste man es nicht schon durch die Lektüre ihrer Memoiren und ihrer 1997 veröffentlichten Tagebuch-Suiten (sie umfassen die Jahre 1898 bis 1901 und noch die ersten beiden Wochen des Jahres 1902), konnte man es spätestens dann erfahren, als die leider nur wenigen Lieder der Alma Schindler und Alma Mahler nach und nach aufgeführt wurden. Der Abend zeigt, dass mit der jungen Komponistin ein großes Talent begraben wurde, als der berühmte Komponist, Dirigent und Hofoperndirektor ihr, der nunmehrigen Frau Gustav Mahler, das Komponieren verbot (bevor er das Verbot revidierte). So liberal und weltoffen auch das Klima um Alma Schindler war, die, wir erfahren es am Abend in gedrängter Intensität, mit den Genies der Secession und dem Komponisten (und Liebhaber) Alexander von Zemlinsky ein und aus ging, so anders auch die Möglichkeiten waren, die Alma Schindlers Existenz von der gleichzeitig in der kulturellen Bayreuth-Blase lebenden Isolde Wagner (der Eva Rieger gerade eine Biographie widmete) unterschied, so schwierig war es für die bisweilen emanzipiert auftretende Frau, ihre Stellung in der Gesellschaft selbstverantwortlich zu führen. Folgerichtig endet der Abend denn auch mit der ersten Heirat.
Ist es natürlich, dass ein Leitmotiv des Abends „Wagner“ heißt? Tatsächlich verehrte Alma Schindler den Komponisten des Tristan wie einen Gott und empfand – damit stand sie nicht allein, auch nicht im Kreis der Wiener Schule – den Parsifal als eine Offenbarung fürs Leben. Immer wieder tropft der Tristan-Akkord in die Szene; er ist die musikalische Signatur, wenn es um Klimt oder, dann und gleichzeitig, Mahler geht. Die Gefühle widerstreiten sich, die Musik des Neutöners wird zunächst abgelehnt, dann geschieht der Durchbruch – das Ende ist ein „Liebestod“ in Durmoll. Die Sängerin Alma legt, begleitet von der Pianistin Alma, die Blätter des 20 Seiten langen „Liebesbriefs“, den Mahler der umworbenen Frau geschrieben hat, auf den Körper der liegenden Alma, begräbt sie sozusagen unter den Worten und dem Schwall der Musik, die Alma so sehr liebte und brauchte.
Alma Schindler selbst war von den Widersprüchen besetzt, die in Otto Weiningers seltsam misogynem und antisemitischem Standardwerk Geschlecht und Charakter, einem Bestseller des fin de siècle, auf den polemischen Punkt gebracht wurden. Der „physiologische Schwachsinn des Weibes“, wie der Titel eines anderen bekannten Werks der Epoche lautet, wurde von der jungen Frau selbst akzeptiert, obwohl sie wusste, dass ihr gelegentlich gute Kompositionen gelangen. Dass ihr Rücken bei der Vorlesung ausgewählter scharfer Stellen des Weiningerschen Groß-Essays als Lesepult zu dienen hat, ist schön erfunden – wie die Kommunikation, die vor allem zwischen der Sängerin und der von Kristine Walther scharfzüngig dargestellten Autobiographin stattfindet, wenn sich nicht gerade die drei Frauen übereinander legen, weil Alma gerade Liebesqualen leidet und dann der Ansturm vehement anhebt. Dorothea Kirschbaum hat ein szenisches Arrangement erfunden, das mit Hilfe der beiden sehr agilen Darstellerinnen eine spannende Geschichte erzählt: die Geschichte einer kunstbegeisterten, selbstkritischen, boshaft-charmanten Zeitgenossin, die schon mit ihren Aufzeichnungen die Epoche mitgestaltete. Schickt sie die Dramaturgie in den Wirbel der Empfänge, Theaterbesuche, Begegnungen und Reize einer modernen Großstadt, wird das Intime zum Öffentlichen – und umgekehrt. Eine Kohorte von „bedeutenden Männer“ zieht im Geist an uns vorüber; dass sie von einer bedeutenden Frau beschrieben und scharf charakterisiert werden, ist von wunderbarer Authentizität. Kunst und Leben werden – was für ein Luxus ihrer geistigen Existenz! – ineins gesetzt, wenn Alma Schindler „ertrinken, versinken“ zitiert und gleichzeitig die Musik erklingt. „Mit Absicht mach ich nichts gut“, schreibt die junge Musikerin irgendwann, es mag stimmen, aber die absichtslos entstandenen guten Gedichtvertonungen lassen sich ohne jeglichen Mahler-Bonus hören, zumal dann, wenn Katharina Ruckgaber mit klarstem Sopranton, begleitet von Anastasia Timofeeva, die Lieder nach Dehmel (noch so einem Hauptprotagonisten der Wiener Moderne), Bierbaum, Rilke und Werfel bringen. Bei Alma Schindler war wohl alles Autobiographie. Um dies zu belegen, bedarf es nicht einmal der exzellenten Interpretationen, die ihre Kompositionen durch die beiden Musikerinnen erfahren.
Und an Wahnfrieds warm klingendem Steinway klingen sie sowieso wunderschön.
Frank Piontek, 30.8.2022
Foto: ©Thomas Eberlein.