Jemand ruft nach dem leisen verklingenden Schlussakkord „Bravo!“ in den Saal. Er hätte auch „Bravissimo“ rufen können; es wäre noch, falls die Steigerungsform erlaubt ist, richtiger gewesen. Denn allein das freilich umfangreiche Schluss-Werk entschädigte für drei angesetzte Stücke, die nur deshalb aufs Programm gesetzt wurden, weil sie irgendwie und irgendwo mit dem zu Feiernden zusammenhängen.
Zugegeben: Die drei No-Names bzw. der weniger Bekannte, also Alexandra Jossifowna, Hugo Riemann und Stephen Heller, schrieben „Jean Paul-Werke“, die neben Schumanns Hauptwerken allerdings einen schlechten Stand haben. Freilich hat sich Birgitta Wollenweber, Klavierprofessorin an der Hochschule für Musik Hanns Eisler, dramaturgisch Schönes für ihr Programm ausgedacht. „Jean Paul im Spiegel der Musik“ – so lautet der Konzerttitel, der dem Dichter zur Erinnerung an sein irdisches Dahinscheiden vor genau 200 Jahren gewidmet wird. Eingerahmt wird der Abend von zwei Schumannschen Großwerken: den Papillons op. 2 und den Davidsbündlertänzen op. 6, dazwischen werden zwei weitere Schumanniana platziert (die Abegg-Variationen op. 1 und das Blumenstück op. 19) – und die Werke der drei Anderen. Wollenweber beginnt mit Stephen Hellers Drei Impromptus op. 7, die der Komponist, im unmittelbarem Umkreis Robert Schumanns, einer Figur aus Jean Pauls Titan gewidmet hat: der Liane de Froulay. Während die Dame blind und übersensibel ist, kreisen Hellers Stücke ein wenig um sich: als schmetterlinghaftes, im 2. Stück (Con Moto) auch chopinsches Gebilde. Gleichfalls schumannesk: Hugo Riemanns Vult und Walt – Jeanpauliana op. 14. Riemann war ein bedeutender Musikwissenschaftler, doch seine Kompositionen sind völlig im Orkus der Musikgeschichte verschwunden. Kein Wunder: Das op. 14, das sich, wie die Papillons, direkt auf die Flegeljahre bezieht, ist ein überdeutlicher Schumann-Abklatsch, in summa eine erstaunlich epigonale Verirrung eines praktizierenden Theoretikers, der es offensichtlich „wie Schumann“ machen wollte: bis hin zum auskomponierten Maskenfest. No. 3 im Raritätenkabinett ist ein 1890 geschriebener Titan einer dem Herzogtum aus Sachsen-Altenburg stammenden russischen Großfürstin, der Johann Strauss den Großfürstin Alexandra-Walzer gewidmet hat (und die von den Kunst-Kapazitäten Stieler und Winterhalter verewigt wurde). Leider ist der Titan ein nicht sonderlich inspiriertes, in punktiertem Rhythmus ablaufendes vierhändiges „Symphonisches Fragment“ – doch spricht für alle drei Stücke die Tatsache, dass man sie vermutlich nie wieder, auch nicht auf Tonträgern und / oder Youtube hören wird. Gut also, dass man sie, mit Liang und Wollenweber an den Tasten, wenigstens einmal live zu hören bekam – und welches Jahr wäre dafür geeigneter als ein Jean Paul-Jubeljahr?

Völlig egal: denn schon nach Anchang Liangs heiter-souveräner Wiedergabe der Papillons, in deren Noten der Komponist einige markante Sätze aus den Flegeljahren hineinschrieb, ist klar, dass die Lehrerin offensichtlich sehr gute Schülerinnen ihr eigen nennt. Nur schade für die in Sachen Jean Paul und die Musik eher weniger informierten Zuhörer, dass der Hinweis auf den Romanzusammenhang erst nach dem Erklingen der Papillons kam, doch vermag das Stück unter den Händen einer guten Pianistin (und Anchang Liang ist eine gute Pianistin) auch ohne jegliche Erläuterungen mit seinem Witz und seinem Charme zu wirken. Die gleichfalls von Liang gespielten Abegg-Variationen machen mit der virtuosen Seite der Pianistin vertraut, die mit schlafwandlerischer Sicherheit durch Schumanns genialisches Frühwerk rauscht, bevor die Lehrerin beim Blumenstück mit dem versonnen Schumann vertraut macht. Versonnen, technisch makellos: so kann man auch den Höhepunkt des Konzerts charakterisieren. Odric Aurelian Gaspers bietet eine durchaus erstaunliche, lupenreine wie gebrochene Deutung der Davidsbündlertänze, die zum Besten gehört, was ich in vielen Konzertjahren an Schumannschem bei Steingraeber gehört habe. Wie der junge Mann die so gegensätzlichen Charaktere von Eusebius und Florestan zeichnet, wie er die Affekte aufeinanderprallen lässt, wie er hier brutalistisch, dort unendlich zart agiert: das hat jene Klasse, über die man sich in einer Berliner oder Münchner Philharmonie kaum noch wundern würde, auch wenn dort wirkliche interpretatorische Glanzpunkte nicht alltäglich sind. In Bayreuth aber, zudem im idealen, relativ intimen Rahmen des Kammermusiksaals, ist genau diese ausdrücklich schattierte Romantik der Schumannschen Poesie und Wirklichkeitsschilderung an der richtigen Stelle: bis hin zum zart verhauchenden Schluss.
Also: Bravissimo!
Ps: Birgitta Wollenweber liest zwischendurch aus Peter Härtlings Roman Schumanns Schatten, sie erläutert, durchaus literarisch, manch Schumanneskes. Alles schön und gut. Den Namen „Jean Paul“ aber spricht sie doppelt französisch aus, nämlich „Jean Pool“. Ist das nicht falsch? Die Frage ist durchaus strittig: Jean Paul hat 1. in seinem Vita-Buch geschrieben: „Ich habe nur ¼ meines Namens übersetzt“ – also nur den Vornamen „Johannes“. Jean Paul schrieb 2. allerdings auch, im selben Notizbuch: „Statt J.P. = Pohl oder Schang oder Schang Pohl.“ Ja was nun? Offensichtlich war sich der Mann, der seinen ersten Vornamen nach Rousseaus erstem Vornamen umtaufte, irgendwann selbst nicht mehr sicher – doch gibt es gute Gründe dafür, aufgrund der Rousseau-Assoziation nur den ersten Vornamen en français auszusprechen.
Frank Piontek, 18. Juli 2025
Jean Paul im Spiegel der Musik
Steingraeber Kammermusiksaal
18. Juli 2025