Dass Venedig eine Musikstadt ist, muss man dem Musikfreund nicht erklären. Wagner hat dort zu Weihnachten 1882 seine Jugendsymphonie aufgeführt: mit Musikern des Konservatoriums, heute sitzen vier Pianisten in Steingraeber Kammermusiksaal am Konzertflügel, um nicht Venezianisches, aber doch auch sehr Schönes zu Gehör zu bringen: „Chopin, Liszt, Ginastera, Gnattali“, so lautet die Überschrift des Programms, womit schon mal zwei wagnerianische Komponisten genannt werden.
Zwei? Ja, denn auch Chopin hatte in Wahnfried Hausrecht. Wagner schätzte ihn, der im Haus am Hofgarten, nur ein paar Schritte vom Klavierhaus entfernt, gelegentlich erklang. Nun sitzen also Davide Vio und Simone Mao, Lucia Canali und Claudia Zanatta am Instrument, um zwischen den Großmeistern der romantischen Klavierkunst und zwei Neueren zu vermitteln. Ich weiß nicht, was Professor Igor Cognolato seinen Schülern beibringt, aber es ist zweifellos etwas Gutes. Man möchte es „nobel“ nennen, wobei die Frage bleibt, was die Studenten an Eigenem schon in die Kurse mitbringen. Nobel-chevaleresk, also so, wie ein guter Chopin mutmaßlich klingen sollte, tönt als Einstimmung ins Ganze die Mazurka op. 33/4 in den Raum; Davide Vio spielt den Beginn merklich zurückhaltend, um für den Kontrastteil noch Platz zur Steigerung zu haben. Die meisten der Werke aber gehorchen dem Diktat einer Brillanz, die man erst einmal technisch in die Finger kriegen muss; ausnahmslos alle Spieler beherrschen ihr Handwerk, um inmitten der Brillanz der unabdingbaren Poesie den nötigen Raum zu geben. Liszts Totentanz, also die Paraphrase über das mittelalterliche Dies irae-Motiv, ist ein Wettbewerbsstück mit Tiefgang und verdammt vielen kleinen Noten; Simone Mao spielt das schlicht souverän, Klavierzirkus und Ausdruck, Tastensturm und dramaturgisch erfasste Innigkeiten wechseln sich quasi harmonisch ab. Mit Chopins höchst ungewöhnlicher Polonaise-Fantaisie op. 61 zeigt er auch, dass ihm jenseits von Klavierzaubereien die Expression zur Verfügung steht; die Fantaisie wird in einem schwer definierbaren Raum zur „epischen Träumerei“, wie der Chopin-Biograph Bernhard Gavoty das mal genannt hat.
Lucia Canali agiert gleichermaßen brillant. Mit Alberto Ginasteras Sonate Nr. 1 op. 22 führt sie uns in rhythmische Stahlgewitter, die von manuellen Fertigkeiten wie musikalisch lustvollen Abenteuern Auskunft geben: wie Strawinsky, nur anders (Spaltklänge inbegriffen). Claudia Zanatta spielt „nur“ ein Werk, Chopins 2, Ballade, aber wie sie das macht … Wie gesagt: Poesie und Technik, nobel erfasster Märchenton und Tastenwirbeleien lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, dass die Musiker allesamt schon sehr reif sind. Lucia Canali erholt sich zuletzt in einer eleganten Wiedergabe von Radames Gnattalis in den 40er Jahren komponierten 1. Vaidoa-Walzer, einer klassisch veredelten Barmusik, bevor Vio wieder den Kreis schließt: mit Liszts 1. Mephisto-Walzer. Auch er kommt bravourös.
Wie gesagt: Dass Venedig eine Musikstadt ist, muss man dem Musikfreund nicht erklären. Schön also, einmal vier junge Leute vom Conservatorio Benedetto Marcello erlebt zu haben. Wenn ich im Herbst wieder am Campo S. Stefano wohnen werde, werde ich mich gern an sie und ihre Kunst der Vermittlung großer Musik erinnern.
Frank Piontek 9. März 2024
Junge Meisterpianisten aus Venedig
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7. März 2024
Lucia Canali, Simone Mao, Davide Vio, Claudia Zanatta