Der Hofkapellmeister der Jahre 1511 bis 1841 Francesco Morlacci (1784-1841) hatte die Einrichtung eines Fonds zur Unterstützung der Witwen und Waisen ehemaliger Kapell-Mitglieder angeregt, dessen Finanzierung seit 1827 aus dem Ertrag der seit dieser Zeit traditionellen Palmsonntagskonzerte erfolgt. Mit dem „Verein der Witwen- und Waisenkasse der Sächsischen Staatskapelle e.V.“ lebt diese Tradition noch immer. In diesem Jahr wollte Herbert Blomstedt nach meiner, nicht unbedingt vollständigen Zählung, das traditionelle Benefizkonzert zum zwölften Mal dirigieren. Bereits 1971 hatte er noch vor seiner Zeit als Chefdirigent der Staatskapelle am Palmsonntag 1971 Beethovens 9. Symphonie dirigiert.
Eine Erkrankung des Altmeisters erforderte, dass der in Dresden bestens eingeführt Manfred Honeck, wie bereits 2022 das Dirigat des Benefizkonzerts übernahm und zunächst in Abänderung des Programms Ludwig van Beethovens (1770-1827) erste Symphonie D-Dur op. 21 interpretierte.
Beethoven war bereits 29 Jahre alt, als er seine erste Symphonie mit eigenem Dirigat zur Aufführung brachte. Vermutlich arbeitete er seit 1794 an der Komposition und hatte bereits früher mit der sogenannten „Jenaer Symphonie“ Versuche unternommen, deren Authentizität aber inzwischen in Frage gestellt ist.
Wie nicht anders zu erwarten war, verschaffte uns Manfred Honeck mit der Staatskapelle eine erfrischende Aufführung. So frisch, so spielfreudig im ursprünglichen Sinne haben wir Beethovens erste Symphonie lange nicht mehr zu hören bekommen. Mit Leidenschaft durchpflügten die Musiker der Staatskapelle den Kopfsatz mit seinen instrumentalen Widerborstigkeiten und gingen die Durchführung beherzt an. Stets sorgte das Orchester für klare Durchhörbarkeit, alles war leicht und dabei sauber und klar gespielt. Das Blech klang strahlend und zupackend. Wo es finster wurde, ballte sich das Ensemble mit Wucht und Willensstärke zusammen. Manfred Honecks Tempi waren zügig, elastisch und geschmeidig. Seine Interpretation sicherte eine durchgängig fulminante Dynamik und eine plastische Phrasierung. Honeck rang der Symphonie knackige Rasanz ab und zeigte, dass Beethoven nicht einfach der Haydn-Schüler war, sondern bereits die ersten Zähne zeigte. Gelegentlich erinnerte sein Dirigat an den jungen verwegenen Revoluzzer Beethoven, der seine Altvorderen zwar gut studiert hatte, doch keine Scheu erkennen ließ, mit den Traditionen Haydns und Mozarts zu spielen., um dem neuen Stil, auch sein Siegel aufzudrängen.
Besonders der humorvolle Anfang des Finalsatzes mit seiner Verzögerungstaktik zeugt von Honecks Verbindung zum Orchester und von der Meisterschaft der Dresdner Streicher im „Daherschleichen“, so dass die Satzbenennung „Adagio-Allegro molto evivace“ für den aufmerksamen Hörer wie eine Überraschung erschien.
Der lang anhaltende Beifall zeigte, dass auch von den Dresdner Musikfreunden viele die Außergewöhnlichkeit der Darbietung Manfred Honeck als solche aufgenommen hatten.
Im zweiten Teil des Konzertes kam Felix Mendelssohn Bartholdys Symphonie-Kantate für Soli, Chor, Orchester und Orgel op.52 „Lobgesang“ zur Aufführung:
Seit der Wanderdrucker Marcus Brandis (um 1455-1500) aus Delitzsch im Jahre 1481 das erste Buch, das Leipzig als Druckort benannte, zum Kauf angeboten hatte, konnte sich der Buchdruck in der Stadt sprunghaft entwickeln. In Verbindung mit Leipzigs Stellung als bürgerlich-kulturelles Zentrum Sachsens und die Blütezeit der Messe als Marktplatz Europas galt der Ort bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als „Hauptstadt des Deutschen Buchhandels“. Die Welt hatte diese Entwicklung dem Genie des Mainzer Bürgers Johannes Gensfleisch (um 1400-1468) genannt Gutenberg zu verdanken. Er bündelte in der Mitte des 15. Jahrhunderts seine Entwicklung der beweglichen, einzeln gegossenen Lettern mit seinem Prinzip „Rechter Winkel-plane Flächen“ sowie die Weiterentwicklungen von Gusswerkstoffen, Farben und Pressen zu einem komplexen Druck-Fertigungsprozess. Mit seiner Arbeit markierte Gutenberg den Beginn der Neuzeit, indem er die Möglichkeiten der Verbreitung des Wissens aus den mühsam tätigen Kopierstuben sowie von den etwas hilflosen asiatischen Holzplattendruckern in ein breit anwendbares technisches System transferiert hatte.
Die Stadt der Buchdrucker und Verleger Leipzig richtete im Jahre 1840 eine gewaltige Feier zur Würdigung der Persönlichkeit Gutenbergs aus. Dazu erteilte der Rat der Stadt 1839 dem Gewandhauskapellmeister Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) die Aufträge, einen „Weltlichen Festgesang für Männerchor und zwei Blasorchester“ und ein „Großes Werk für Orchester, Chor und Sänger zum Lobe Gutenbergs“ zu komponieren.
Der „weltliche Festgesang“ ist am 24. Juni 1840 von den vereinigten „Militär- und Stadtmusikchören“ mit Mendelssohns Dirigat zur Weihung einer Nachbildung des Mainzer Gutenberg-Denkmals, das der Leipziger Bildhauer Friedrich Funk (1804-1882) auf dem Marktplatz aufgestellt hatte, aufgeführt worden. Für seinen zweiten Auftrag wollte Mendelssohn zunächst ein Oratorium, dann eine größere Psalm-Vertonung schaffen, bis er sich für eine Mischung aus symphonischer Musik und einer Kantate entschied. So glaubte er das Problem des Zusammenwirkens von Poesie und Musik für die Aufführung am 25. Juni 1840 des „Lobgesangs“ im großen Festkonzert in der Thomaskirche gefunden zu haben. Für eine weitere Aufführung im Dezember 1840 erweiterte der Komponist seine Arbeit um weitere Sätze. Diese Fassung wurde, allerdings erst Jahrzehnte nach seinem Tode, in seinem Werkverzeichnis als Symphonie Nr. 2 B-Dur eingeordnet.
Die Festbesucher der ersten Darbietungen seien begeistert gewesen und der „Lobgesang“ ist zu Mendelssohns Lebzeiten eines seiner häufigsten aufgeführten Werke gewesen. Die professionelle Kritik hat aber vom Beginn an bis zur Jetztzeit verstört über die eigenwillige Mischung von Chor- und Orchestermusik reagiert. Als nicht sonderlich glücklich gilt auch die Gegenüberstellung biblischen Geschehens mit der Entwicklung des Buchwesens: die Erlösung des im Dunkel der Glaubensungewissheit gefangenen Volkes Israels durch Führung in das Licht der Erkenntnis ist sicher keine treffende Metapher.
Gegen eine Deutung des „Lobgesangs“ als Kantate mit symphonischem Vorspiel sprechen die unterschiedlichen Längen von den drei orchestralen Sätzen gegenüber den kaum doppelt so langen vielfältigen Gesangsformen, wenn da Rezitative, Lieder, Arien und Chorsätze wechseln. Das Eingangsmotiv der Symphonie begleitete die Zuhörer bis zum Schluss und wurde zum krönenden Ruf des Chores „Alles was Odem hat, lobe den Herrn“.
Manfred Honeck zelebrierte das Werk ohne in größeres Pathos zu verfallen. Die orchestralen Sätze konnten kaum bessere Interpreten als die Sächsische Staatskapelle finden. Die Musiker spielten sehr engagiert, äußerst differenziert und sicherten einen transparenten, durchhörbaren Klang. Dabei ließ Honeck den Klangfarbenreichtum betonen und legte versteckte Schönheiten der Partitur frei. Ihm gelang, romantische Klangvorstellungen mit dem traditionellen warm-gedeckten Ton des Orchesters umzusetzen und mit seinen Ansprüchen an die Virtuosität der Instrumenten-Gruppen in Einklang zu bringen. Die Streicher hatten ihr Vibrato auf ein Minimum gedrosselt und die Bläser musizierten nie schwer gepanzert. Es gab konturierte Kammerstücke beim Innehalten zwischendurch, gestisch fein gezeichnete Details und spannende Übergänge. Markant, aber nicht auftrumpfend intonierten die drei Posaunen die Eingangs-Fanfare, die dann als roter Faden durch das gesamte Werk geführt wurde. Ein Stillstand im ersten Satz und wie Honeck das Orchester wieder ins Tempo hineinschob, war höchste Dirigierkunst. Der zweite Satz kam fast wie Ballettmusik und das „Adagio religiosi“ entfaltete weihevolle Größe.
Der den vokalen zweiten Teil eröffnende Satz „Alles was Odem hat, lobe den Herrn“ wurde frisch und kontrastscharf vom Sächsischen Staatsopernchor vorgetragen. André Kellinghaus hatte mit seiner Einstudierung Hervorragendes geleistet, wenn die Darbietung innehielt, der Chor sein Singen in ein Pianissimo verschattete, um so das Rezitativ und die Arien des hervorragenden Tenors Tilman Lichdi einzuleiten. Im Sopranduett harmonierten Christina Landshamer und Simona Ṧaturová auf das Innigste miteinander. Dem folgte sanft und doch fordernd das Tenorsolo „Stricke des Todes hatten uns umfangen“.
Es gab auch beklemmende Passagen, wenn der Chor sein „der in seine Hoffnung setzt auf ihn!“ dämpfte, um so auf die Wächterszene hinzudeuten, in der, etwas opernhaft, der Knoten des Werkes geschürzt wurde: zum Zerreißen gespannt fragte der Tenor Tilman Lichdi „Hüter , ist die Nacht bald hin?“, bis endlich mit leuchtendem Sopran Christina Landshamer mit „Die Nacht ist vergangen“ den Durchbruch einleitete und das zentrale geistliche Thema vorstellte: ein gütiger Gott, der die betrübte Menschheit aus „Not“ und „schwerer Trübsal“, aus den Stricken des Todes und der „Angst der Hölle“ erlöst. Der Sächsische Staatsopernchor nahm das Thema zu Recht martialisch auf, wandelte sich in einen Gemeindegesang und trug die lutherische Hymne „Nun danket alle Gott“ schlicht, aber gestochen scharf vor. Die beiden Chorfugen, mit der die Symphonie schließt, wurden in aller Pracht entfaltet.
Nicht Rhetorik, sondern Ausdruck und Seele zogen die Zuhörer in ihren Bann. Die breite Anlage und der ereignisreiche Klang strukturierten die Darbietung eindringlich.
Die hervorragenden Sopranistinnen Christina Landshamer und Simona Ṧaturová, der stimmkräftige Tenor Tilman Lichdi, ein hervorragend aufgelegter Chor sowie der hoch-engagierter Manfred Honeck gestalteten auch mit der nicht unproblematischen Komposition des Felix Mendelssohn Bartholdy den zweiten Teil des Konzertes zu einem schönen Erfolg.
Thomas Thielemann 26. März 2024
Palmsonntagskonzert
24. März 2024 in der Semperoper
Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 1 C-Dur op. 21
Felix Mendelssohn Bartholdy: „Lobgesang“ Symphonie-Kantate für Soli, Chor, Orchester und Orgel
Dirigent: Manfred Honeck
Sächsischer Staatsopernchor-Einstudierung:
André Kellinghaus
Sächsische Staatskapelle Dresden