Hamburg, Ballett: „48. Hamburger Ballett-Tage“

Gebührend feierte das Hamburg Ballett sein singuläres Jubiläum mit den auf vier Wochen ausgedehnten Ballett-Tagen, in denen 22 verschiedene Produktionen gezeigt wurden, zwei Compagnien (aus Prag und Stuttgart) gastierten und die traditionelle Nijinsky-Gala XLVIII zum Abschluss wie erwartet den Höhepunkt der Festtage markierte.

John Neumeier hatte wie stets die Konzeption des Programms besorgt und auch dessen Moderation übernommen, welche er in bewundernswert souveräner Manier absolvierte und es an Dankesworten für seine Tänzer, das Philharmonische Staatsorchester Hamburg und alle Mitwirkenden hinter der Bühne nicht fehlen ließ. In drei Abteilungen hatte er den Gala-Abend am 9. 7. 2023 aufgeteilt, der Ausschnitte aus weiteren 14 Balletten präsentierte, welche, während der Ballett-Tage nicht gezeigt wurden. Der erste Teil war mit Vergessene Tänze übertitelt, was sich auf längere Zeit nicht aufgeführte Stücke oder frühe Arbeiten von Neumeier aus den 1970er Jahren bezog. Berührender Auftakt war der „Reigen seliger Geister“ aus Orphée et Eurydice mit Edvin Revazov und Anna Laudere. Ein schöner Kontrast zu dieser feierlichen Szene waren zwei Ausschnitte aus Fenster zu MOZART von 1991 mit Madoka Sugai als jugendlicher Gesangsschülerin Aloysia Weber und dem springlebendigen, ausgelassenen Alexandr Trusch als dem Titelhelden, die in der zweiten Episode auch einen sehr emotionalen Pas de deux zeigen konnten. Mit „To What You Said“ präsentierten Christopher Evans und Félix Paquet ein kraftvolles Männer-Duo aus Bernsteins Songfest, das Neumeier 1979 choreografiert und ausgestattet hatte. Erfreulich war das Wiedersehen mit den Bartók-Bildern von 1998, aus denen Xue Lin und Karen Azatyan mit „Time after Time“ ein Duo von strenger, eigenwilliger Form vorstellten. Eine Novität für das Hamburger Publikum war die „Neue Pizzicato-Polka“ von Johann Strauß, die Neumeier 2006 für das traditionsreiche Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker geschaffen hatte. In Frack und Zylinder agierten Ida Praetorius, Jacopo Belussi und Alessandro Frola mit Witz und Charme. Schon Tradition in der Gala ist ein Beitrag des Bundesjugendballetts – diesmal mit dem aus dem Vorjahr stammenden Stück Die Unsichtbaren, in welchem Neumeier den in der Nazi-Zeit verfemten und vergessenen Tänzern ein Denkmal setzen wollte. Dem Ensemble des Taras Shevchenko National Opera and Ballet Theatre of Ukraine hatte der Choreograf zwei Sätze (Spring and Fall) aus seiner Kreation von 1994 auf Dvoráks Streicherserenade anvertraut. Kraftvolle Tänzer und anmutige Tänzerinnen vereinten sich hier zu einem poetischen Gruppenbild am Ende des 1. Teils.

Die Abteilung nach der Pause trug den Titel The Piano Ballets, hat Neumeier doch viele Arbeiten auf Klaviermusik geschaffen. Eines der jüngsten Beispiele ist das Beethoven-Projekt I von 2018, das am Anfang stand und mit Aleix Martinez den grandiosen Interpreten der Uraufführung präsentierte. Zwischen kreatürlicher Expressivität und marionettenhaftem Gestikulieren formte er eine faszinierende Charakterstudie des Komponisten. Auch sein Partner Edvin Revazov als Beethovens Ideal war damals dabei und überzeugte hier wiederum mit seiner starken Persönlichkeit. Michal Bialk spielte die „Eroica-Variationen“ sehr einfühlsam und hatte sich dankenswerterweise bereit erklärt, den gesamten Klavierpart für die Begleitung der einzelnen Ausschnitte zu übernehmen.

Eine sehr frühe Arbeit noch aus Neumeiers Frankfurter Zeit (1972) war mit Dämmern auf Klaviermusik von Alexander Skrjabin zu sehen – feinsinnige Miniaturen, in denen u.a. Yun-Su Park und Matias Oberlin mit anmutigem Zauber gefielen. Der Fall Hamlet war 1976 die erste Beschäftigung Neumeiers mit Shakespeares Drama, der noch vier weitere Auseinandersetzungen (bis zur jüngsten mit Hamlet 21) folgen sollten. Atte Kilpinen vom Finnish National Ballet tanzte das Solo „Hamlet Connotations“, welches Neumeier für Michail Baryschnikow erdacht hatte, mit enormer Expressivität und totalem Einsatz, womit er die existentielle Situation des dänischen Prinzen eindrücklich verdeutlichte. Für einen krassen, aber willkommenen Szenenwechsel sorgten sieben glamouröse Tänzerinnen (darunter die charismatische Patricia  Friza) in duftig leichten Kostümen mit flotten Nummern aus Shall We Dance?, womit Neumeier 1986 der legendären Broadway-Diva Marilyn Miller auf Musik von Gershwin ein Denkmal setzen wollte. Für das enorm abwechslungsreich zusammengestellte Programm sprach der folgende Ausschnitt aus dem 2006 entstandenen Ballett Parzival – Episoden und Echo auf Musik von Arvo Pärt. Edvin Revazov als Titelheld und Anna Laudere als Das Fräulein, das nie lacht sorgten hier für ein geheimnisvolles Tanzduo, das von scheuer Annäherung zu inniger Zuwendung wächst. Mit einem hingebungsvollen, zärtlichen Pas de deux aus Désir (wiederum mit Musik von Skrjabin) endete die zweite Abteilung. Es war die allererste Choreografie von Neumeier, die in Hamburg gezeigt wurde (1973). Silvia Azzoni und Alexandre Riabko, zwei Säulen der Compagnie, bewiesen mit dem lyrischen Fluss ihrer Darbietung die auch heute noch gültige und berührende Substanz dieses Stückes.

Höhepunkt des Abends war die dritte Abteilung, Guests – and Finale, in der jede einzelne Nummer vom Publikum stürmisch bejubelt wurde. Diese Gruppe bot auch die größte Abwechslung sowie atemberaubende Bravour und faszinierende Fremdartigkeit. Hinreißend schon der Beginn mit einem Pas de deux aus Blumenfest in Genzano des legendären dänischen Choreografen August Bournonville von 1858. Leicht, hoch und weit sprang Francesco Gabriele Frola vom English National Ballet; anmutig und flink war Ida Praetorius, Erste Solisten in Hamburg und aus Dänemark stammend, eine ideale Partnerin. Eine enge Verbindung hat die Hamburger Compagnie zu Japan, wo sie mehrfach gastierte. Im Gegenzug brachten Dan Tsukamoto und Akimi Denda vom Tokyo Ballet eine Choreografie von Maurice Béjart von 1968, Bhakti III auf traditionelle indische Musik, mit nach Hamburg – Exotik pur, aufregend sinnlich und von fremdartigem Reiz. Eigens zum Hamburger Jubiläum schuf der chinesische Choreograf Fei Bo ein neues Stück, One Thought for a Lifetime auf Musik von Alan Qin, das Qiu Yunting und Li Wentao vom National Ballet of China ruhig fließend und hoheitsvoll boten. Mit 93 Jahren starb in diesem Jahr der französische Choreograf Pierre Lacotte, aus dessen letzter Schöpfung von 2021, Le Rouge et le Noir auf Musik von Jules Massenet, ein Pas de deux als Hommage an den verstorbenen Künstler gezeigt wurde. Aus Paris waren die Interpreten der Uraufführung Dorothée Gilbert und Hugo Marchand angereist. Beide Étoiles des Ballet de l’Opéra National de Paris, zeigten sie die Szene in bestechender Eleganz und schwüler Sinnlichkeit, auch wenn sich diese nahe einer Kopie von Neumeiers Kameliendame oder MacMillans Manon bewegt.

Ein Signatur-Stück der Compagnie ist Dritte Sinfonie von Gustav Mahler – die erste abendfüllende Kreation für das Hamburg Ballett 1975 und seither ständig im Repertoire mit wechselnden Besetzungen. So auch am Gala-Abend, als Alina Cojocaru, regelmäßiger Gast in Hamburg, im Adagio den Part des Engels erstmals interpretierte. Voller Zartheit und Hingabe sorgte sie mit ihrem Partner Edvin Revazov für einen sehr emotionalen Moment, der sich in der feierlich-erhabenen Schlussphase noch steigerte, als John Neumeier hinten die Bühne betrat und sich staunend inmitten seiner Tänzer bewegte. Dann folgten Jubel und stehende Ovationen, die Parade der Blumengebinde und der traditionelle Konfetti-Regen vom Schnürboden. Einbezogen in den stürmischen Applaus wurden natürlich auch das Orchester, das unter Simon Hewett die vielfältigen musikalischen Stile mit Glanz bewältigt hatte.

Der Dirigent stand auch an mehreren Ballettabenden am Pult – so am 6. 7. 2023 in Nijinsky, als Alessandra Ferri in der Rolle der Ramola Nijinska auftrat, die sie eigens für eine Vorstellungsserie während der Festtage einstudiert hatte. Wie die Cojocaru ist die italienische Assoluta in Hamburg keine Unbekannte, war hier schon in mehreren Partien zu sehen, darunter als Duse, die Neumeier für sie geschaffen hatte. In der ersten Szene, die Nijinskys letzten Auftritt im Suvretta-Ballsaal in St. Moritz schildert, ist sie im leuchtend roten Kleid zunächst stille Beobachterin, bis sie in mehreren Szenen selbst aktiv wird – so mit ihrem Ehemann Vaslaw, den Alexandr Trusch mit enormem körperlichem Einsatz und bis an die Grenzen gehender Expressivität verkörpert. Noch immer tanzt die Ferri leicht und schwebend, physisch kann sie freilich nicht immer mit ihren Partnern Schritt halten. Mehrfach ist sie neben Karen Azatyan zu sehen. der als charismatischer Faun oder als Goldener Sklave in Scheherazade mit lasziver Aura fasziniert. Weitere Fragmente aus Nijinskys Tänzer-Karriere bieten Christopher Evans als Harlequin in Carnaval und Geist der Rose in Spectre de la rose, Jacopo Belussi als Junger Mann in Jeux und Borja Bermudez als ausdrucksstarker, erschütternder Petruschka. Für den Diaghilew fehlt es Edvin Revazov an schillernder Abgründigkeit, während Aleix Martinez als Vaslaws verhaltensgestörtem Bruder Stanislaw mit pathologischen Zuckungen eine starke Charakterstudie formt. Auch Patricia Friza als Vaslaws strenge Schwester Bronislava sorgt für beklemmende Momente, vor allem mit ihrem Solo im Sacre, wo auch die Herren einen furiosen Beitrag zu dieser überwältigenden Kriegsszene leisten. Für Anmut und Bravour war Ida Praerorius als Tamara Karsavina zuständig, an deren Glanzrollen Sylphide, Nymphe und Ballerina in Petruschka erinnert wird. Ergreifend ist die Ferri, wenn sie Nijinsky auf einem Schlitten davonzieht und in das Sanatorium bringt. „Hochzeit mit Gott“ nannte der Tänzer seine letzte Vorstellung. Trusch kann hier noch einmal mit einem Ausnahmeauftritt überwältigen.

Am nächsten Abend gab es die 47. Vorstellung von Neumeiers 2011 uraufgeführter Ballettlegende Liliom in teils neuer Besetzung. Karen Azatyan war nun der Titelheld – grandios in seiner virilen Erscheinung und Kraft. Berührend seine Duette mit Julie, die Alina Cojocaru bei der Uraufführung kreiert hatte und noch immer mit ihrem scheuen Wesen voller Liebreiz und Hingabe bezaubert. Auch Lilioms Szenen mit seinem Sohn Louis sind ergreifend. Louis Musin wächst zu einem neuen Star des Ensembles heran – eben erfolgreich als neuer Romeo, überzeugt er auch in dieser Rolle durch seine jugendliche Vitalität und Eigensinnigkeit. Grandios wie stets Aleix Martinez als bizarrer, widerlicher Ficsur aus dem Untergrund, der Liliom zu einem Diebstahl überredet, welcher misslingt und zu Lilioms tragischem Ende führt.  Anna Laudere als Karussellbesitzerin Frau Muskat ist verführerisch in ihrer Aura und Erscheinung. Die Gruppe der Herren trumpft in der Szene der Arbeitslosen auf Jobsuche stampfend und springend mitreißend auf. Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg und die NDR Bigband dirigiert Nathan Brock und bringt die Musik von Michel Legrand zu zündender Wirkung.

Bernd Hoppe, 13. Juli 2023


48. Hamburger Ballett-Tage

Nijinsky-Gala XLVIII

Nijinsky

Liliom

Hamburgische Staatsoper

6., 7. und 9. Juli 2023

Choreografien von John Neumeier

Musikalische Leitung: Simon Hewett und Nathan Brock

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg

NDR Bigband