Das Ballett entstand anlässlich des 200. Geburtstages von Hans Christian Andersen (1805-1875) in freier Anlehnung an sein gleichnamiges Märchen und wurde vom Königlich Dänischen Ballett 2005 in Kopenhagen anläßlich der Eröffnung der neuen Oper uraufgeführt. Die Premiere in Hamburg erfolgte am 1. Juli 2007. John Neumeier, geb. 1939, lieferte damals Choreographie, Inszenierung, Bühnenbild, Kostüme und Lichtkonzept, Lera Auerbach, geb. 1973, die Musik.
Zur Wiederaufnahme am 6. Juli 2025 erfolgte eine Überarbeitung (Neufassung).

Worum geht es? Als die kleine Meerjungfrau (Xue Lin) zum ersten Mal ihre Welt des Meeres verlassen durfte, wurde sie sogleich Zeugin eines Schiffsuntergangs. Sie rettete einen schönen jungen Mann vor dem Ertrinken, und musste am Strand schon bemerken, dass er, gefunden von einer jungen Frau (Henriette/Prinzessin Ida Praetorius), sich in diese bzw. sich diese in ihn verliebte. Die kleine Meerjungfrau tat nun alles, um seine Liebe zu gewinnen. Denn nur, wenn sie die Liebe eines Menschen erlangt, kann sie die tiefe Unterwasserwelt verlassen und die Schönheit der Welt oben erleben.
Es half ihr nicht, dass sie bei dem Meerhexer (Louis Musin, souverän mit ungeheurer Beweglichkeit des gesamten Körpers vor allem seines linken Arms)ihre Stimme gegen menschliche Beine tauschen konnte. Diese Operation bedingte große Schmerzen. Der Prinzliebt weiter seine Prinzessin und heiratet sie Die kleine Meerjungfrau tanzt gegen ihren Liebesschmerz an. Mit dem Messer des Hexers auf den Prinzen einzustechen, um sich selbst retten, kommt für sie nicht in Frage. Sie springt ins Wasser und zerstäubt im Meeresschaum zu einem Luftgeist. So passiert es im Märchen von Hans Christian Andersen.
Neumeier baut die Biographie Andersens (Dichter) und dessen Beziehung zu seinem Jugendfreund Edvard in die Handlung ein. Zu Beginn des Balletts stürzt der Dichter (Lennard Giesenberg) über die Reling des Schiffes und entdeckt sein Geschöpf, die kleine Meerjungfrau, auf dem Meeresgrund. Aus dem Prinzen des Märchens wird Edvard, der Schiffskapitän (Matias Oberlin) und die Geschichte bleibt traurig: Liebe ist nicht notwendig symmetrisch. Wer liebt, wird nicht notwendigerweise wiedergeliebt und dann unglücklich. Nur wer geliebt wird, hat die Chance aufzusteigen, das Glück der da oben zu erleben. Ihre Liebe ist tragisch und bleibt es trotz größter Schmerzen und aller Bemühungen, unbedingt zu gefallen. Da helfen auch der Verzicht auf die eigene Identität, oder flapsig – Schönheitsoperationen nicht.
John Neumeier, geb. 1939 in Milwaukee, Wisconsin, arbeitete bekanntlich 1973 bis 2024 als Ballettdirektor an der Hamburger Staatsoper und hat die Ballettschule Hamburg gegründet, in der seit 1989 Jugendliche im Alter von 10 bis 18 Jahren für den Tanz auf der Bühne ausgebildet werden. Sein Ansehen als Choreograph führte zu Einladungen in die ganze Welt.

Andersens Märchen beginnt mit dem Satz: „Weit draußen im Meere ist das Wasser so blau wie die Blätter der schönsten Kornblume“. Dieser Satz steht handschriftlich geschrieben am Bühnenhimmel zu Beginn des Ballettabends. Das Bühnenbild dazu erscheint wie eine Postkarte, auf der sich der Dichter in Schwarz unter heller Sonne auf Deck eines Schiffes an der Reling mit Rettungsring bewegt. Dabei entstehen wunderbare Schattenspiele. Mit Hilfe einer oder auch mehrerer, leicht horizontal geschwungenen Lichtline schon auf dem blauen Bühnenvorhang vor Beginn wird im ersten Teil die Position über und unter NN symbolisiert. Das Schiff als Ort des Geschehens wird verdeutlicht, indem situationsabhängig entweder ein kleiner Dampfer mit vier Schornsteinen oben von rechts nach links dampft, oder nach der Katastrophe des Schiffsuntergangs gleich mehrere Schiffe kopfüber im dunkelblauen Meer bewegungslos hoch über dem Meeresboden treiben.
Der feine Humor des Choreographen kontrastiert in dieser Inszenierung immer wieder fantastisch zur Tragik der kleinen Meerjungfrau, deren eleganter, bezaubernder Tanz nach Umwandlung der Schwanzflosse in menschliche Beine schwerfällig und von Schmerz erheblich beeinträchtigt wird. Dagegen darf bei der Frühgymnastik der Matrosen und dem sensationellem Golftraining des Kapitäns an Deck bei nur einzelnen Unschärfen in der Synchronisation durchaus geschmunzelt werden. Herrlich lebendig trippeln auch die Klosterschülerinnen unter der Fuchtel ihrer autoritären Nonnen über den Strand, auf dem Henriette (Prinzessin) ihren fast ertrunkenen Edvard wunderbar und medizinisch einigermaßen korrekt durch Herzdruckmassage reanimieren will. Erst ihr Kuss bringt aber den Erfolg.

Im 2. Akt – die kleine Meerjungfrau hat ihr Unterwasserparadies verlassen – wird sie einsam in einer kargen, weißen Stube mit nur einem Stuhl gezeigt, aus der sie zunächst vergeblich versucht auszubrechen. Später bewegt sie sich bei der Hochzeit ihres Prinzen bzw. Edwards als Brautjungfer mit gekrümmten Beinen schmerzverzerrt über die Bühne. Zeitweise muss die leiden Liebende sogar im Rollstuhl über die Bühne geschoben werden. Das sind bewegende Bilder. Aber der Prinz zieht am Ende Golfspiel und Henriette der unglücklichen Meerjungfrau vor.
Die findet sich im Epilog erneut in ihrer Zelle wieder, verlassen von dem, den sie liebt, und bricht zusammen. Der Dichter tritt auf, richtet sie auf, und gibt ihr schließlich ihre Seele wieder. Zuletzt stehen die beiden wie im Traum unter leise regnenden hellen Sternen auf nächtlich dunkler Bühne. Diese erste Ballettmusik Lera Auerbachs kommentiert die getanzte Handlung ähnlich wie Filmmusik. Dabei spielen die beiden Soloinstrumenten – Solovioline (Daniel Cho) und Theremin (Lydia Kavina) – eine große Rolle. Das Theremin, ein um1920 erfundenes Musikinstrument, aus dem später der Synthesizer entwickelt wurde, bereichert mit sirenenartigem, glissandoartig, oft nasal auf – und abschwellendem überaus interessantem Klang die orchestralen Farben des Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter der routinierten Leitung von Luciano Di Martino. Die Besetzung des Sinfonieorchesters wechselt zwischen Streichquartett und voller Besetzung. Das Glockenspiel ist nicht selten zu hören, ebenso das Becken. Da wimmelt es von musikalischen Zitaten aus der Musikgeschichte. Eine kammermusikalische frühklassische Serenade (Streichquartett)wechselt zu orchestralem Marsch, Polka oder Tango. Einen Walzer gibt es, gemischt aus Chatchaturian und Kurt Weil, ein Matrosenlied aus Odessa und selbst das Schicksalsmotiv aus Beethovens 5. Sinfonie erklingt. Die eklektizistische Musik dient unterhaltsam und kurzweilig der Begleitung dieses wunderbaren Handlungsballetts und wurde teilweise den Bedürfnissen der Choreographie angepasst. Ob sie jemals als eigenständige Musik den Weg in die Konzertsäle finden wird(Typ Nussknacker-Suite), bleibt abzuwarten.

Fazit: Der Abend mit wunderbaren Szenen und Bildern verzaubert das Publikum lässt aber Fragen offen: Warum will die kleine Meerjungfrau überhaupt die für sie perfekte Heimat auf dem Meeresboden verlassen? Gesucht hat sie ihr Glück anderswo. „Da wo du nicht bist, ist das Glück“. Das trifft für die, die diesen Abend erlebt haben, nicht zu. Am Ende gab es langen, frenetischen Beifall für alle Tänzerinnen, Tänzer, das gesamte Ensemble. Blumensträuße flogen auf die Bühne.
Johannes Vesper, 28. Oktober 2025
Die kleine Meerjungfrau
Ballett von John Neumeier
Staatsoper Hamburg
Aufführung am 23.Oktober 2025
Musikalische Leitung: Luciano Di Martino
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg