Aus Ferenc Molnárs Vorstadtlegende Liliom aus dem Jahr 1909 hatte der Choreograf John Neumeier eine Ballettlegende geschaffen, die 2011 ihre Uraufführung feierte. Für seine Abschiedssaison als Direktor seines Hamburg Balletts John Neumeier hat er, neben vielen anderen seiner im Verlauf der letzten 50 Jahre entstandenen Schöpfungen, auch diesen Abendfüller wieder aufgenommen. Einmal mehr erweist sich Neumeier als unumstrittener Meister des Handlungsballetts. Keiner kann Geschichten so packend, so emotionsgeladen und so stringent in Tanzsprache umsetzen wie er. So ist man auch jetzt währen der knapp drei Stunden inklusive einer Pause dauernden Aufführung von Anfang an gefesselt, folgt dem nie abreißenden Spannungsbogen und fühlt mit den Figuren mit. Klugerweise hat Neumeier bei seiner Adaption nicht auf die Musik des Erfolgsmusicals Carousel zurückgegriffen, das ebenfalls auf Molnárs Stück fußt. Neumeier ließ sich vom Komponisten Michel Legrand eine komplett neue Partitur zu Liliom schreiben. Der dreifache Oscar-Preisträger Legrand, der neben Filmmusik auch Songs u.a. für Barbara Streisand, Kiri Te Kanawa, Jessye Norman, Frank Sinatra, Ella Fitzgerald schrieb und arrangierte, steuerte zu diesem Ballett eine vielschichtige, die Situationen und Charaktere grandios zeichnende Musik bei.
Sie wurde nicht nur vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg aus dem Orchestergraben gespielt, sondern mit der NDR Bigband saß ein exzellentes Ensemble von fast 20 Jazzmusikern auf einer Empore im Bühnenhintergrund. Dazu gesellte sich auch noch ein wunderbarer Akkordeonist, der auf der Bühne zum farbenreichen musikalischen Kunstwerk beitrug. Unter der konzentrierten und präzisen Leitung von Nathan Brock machte die Musik gewaltigen Eindruck, von beschwingter Rummelplatzmusik bis zu intimen Szenen zwischen Liliom und Julie, Liliom und seinem Sohn Louis oder den Szenen im Himmel. Subtil schimmerte immer wieder das große Liebesthema durch, schlich ich als Leit- und Erinnerungsmotiv in den musikalischen Ablauf. Besonders eindringlich und in Erinnerung bleibend das sich dynamisch ähnlich wie Ravels Bolero steigernde Ostinato der beiden Orchester im Bild vor der Job Agency, wo Neumeier die Frustrationen, die Wut und die Verzweiflung der Jobsuchenden in seiner Choreografie regelrecht explodieren ließ. Das ging unter die Haut, wie so vieles an diesem Abend.
Neumeier gelingt es, nicht bloß exzellenten Tänzern ihr hohes technisches Können demonstrieren zu lassen, sondern sie uns als Menschen mit ihrem Schicksal so nahe zu bringen, dass sie uns echt rühren. Edvin Revazov in der Titelrolle bringt alles mit, was es für diesen komplexen Charakter braucht: Aggressivität, Kraft, Sensibilität und unwiderstehlicher Sex Appeal. Ja, Liliom ist einer, der schnell mal dem Kontrollverlust anheimfällt, der echte Liebe in seinem Leben wohl nie erfahren hat, und deshalb auch die bedingungslose Liebe Julies nicht annehmen kann, sie gar schlägt. Erst in seiner Traumsequenz, wo er sich als Vater sieht und seinem noch ungeborenen Sohn all das schenken möchte, was er selbst nie erfahren hat, wird ihm klar, was Liebe bedeuten könnte.
Diese Erkenntnis kommt zu spät, er begeht den Überfall, wird von der Polizei eingekesselt und verübt in der ausweglosen Situation Suizid. Wunderbar inszeniert Neumeier die Szenen im Himmel, wie Liliom aus einem Wolkenfenster heraus das Aufwachsen seines Sohnes beobachtet, vom Konzipisten (Lasse Caballero) geprüft, von sechs roten Teufeln verspottet wird. Der Ballonmann (Matias Oberlin), der ihn schon in den Himmel hochgezogen hat, begleitet ihn für einen Tag zurück auf die Erde. Doch Liliom schafft es nicht, die Zeit für die gute Tat zu nutzen, schlägt auch seinen Sohn. Einfühlsam zeigt Neumeier aber, wie diese Ohrfeige Julie und ihren Sohn Lilioms Nähe spüren lässt, seine eben doch vorhandene Liebe überhandnimmt.
Ida Praetorius ist eine fragile und zugleich starke Julie, grazil, virtuos, mit traumhaft anmutiger tänzerischer Grazie. Patricia Friza zeigt eindringlich das sexuelle Begehren einer etwas älteren Frau als Lilioms Chefin Frau Muskat. Ihrem sexuellen Besitzanspruch auf ihn, ihrer Eifersucht auf Julie vermag Patricia Friza überwältigeden Ausdruck zu verleihen. Das “ glückliche“ Nebenpaar Marie und Wolf tanzen Yaiza Coll und Borja Bermudez. Sie zeigen den Aufstieg aus der Unterklasse zu Wohlstand, verkörpern eindrucksvoll den American Dream. Ihr Sohn Elmer (Ricardo Urbino) ist ein arroganter Schnösel, ganz das Gegenteil von Julies und Lilioms Sohn Louis, der zwar etwas verwildert in den Ruinen des Rummelplatzes aufwächst, aber die Sensibilität seines Vaters Liliom geerbt hat. Francesco Cortese tanzt ihn mit enormer Ausdrucksstärke, zeigt die Verwirrungen des Teenagers zwischen kindlichen Gefühlen, Suche nach Geborgenheit und sturem Trotz. Aleix Martinez als hypernervöser Fiesling Ficsur, Lizhong Wang als betrunkener, übergriffiger Matrose, Illia Zakrevskyi als ein schüchterner Junge, Louis Haslach als trauriger Clown und Tristan Burawski-Borrmann als Louis als kleiner Knabe formten mit herausragendem Können und starker Bühnenpräsenz diese die Story bereichernden Charaktere.
Das Bühnenbild von Ferdinand Wögerbauer ist ein echter Hingucker, situiert die Spielorte von den bunten Lichtern und dem Pferdekarussell des Rummelplatzes über die Nachtszene vor dem Playland und zum Tor vor der Arbeitsvermittlung bis zur Gerichtsszene im Himmel und zurück zum nun verfallenen Playland mit subtil ausgearbeiteter Genauigkeit. Die Bühne bietet zudem viel Platz für die lebhaften und raffiniert choreografierten Massenszenen auf dem Jahrmarkt, bei der Hochzeit von Marie und Wolf und vor dem Arbeitsamt. Die Kostüme passen perfekt zur Wirtschaftskrise der 30er Jahre in den USA. Sie wie auch das stimmige Lichtdesign hat John Neumeier, wie meistens in seinen Kreationen, selbst entworfen. Wenn nach dem eindringlichen Pas de quatre (Julie, Liliom, Louis, Ballonmann) Liliom Julie am Ende zärtlich küsst und dann im verglimmenden Licht entschwindet, kommt man nicht umhin, eine Träne der Rührung zu verspüren. Ein Ballett, das bewegt.
Kaspar Sannemann 29. April 2023
Liliom
John Neumeier
Hamburg, Staatsoper
27. April 2023
Bühnenbild von Ferdinand Wögerbauer
Choreograf John Neumeier
Dirigat: Nathan Brock
NDR Bigband
Philharmonischen Staatsorchester Hamburg