Uraufführung am 03.06.2018
Philosophische Gedanken zu großer Orchestermusik
Eine Oper über den Philosophen, Kulturkritiker und Übersetzer Walter Benjamin zu schreiben, ist per se ein ambitioniertes Unterfangen. Peter Ruzicka hat es im Auftrag der Hamburgischen Staatsoper getan, vor ihm allerdings auch schon Claus-Steffen Mahnkopf („Angelus novus“, 2000), Brian Ferneyhough („Shadowtime“, 2004) und Elliott Sharp („Port Bou“, 2014).
Ruzickas Oper „Benjamin“, die jetzt in der Hamburgischen Staatsoper in 90 pausenlosen Minuten uraufgeführt wurde, nennt sich „Musiktheater in sieben Stationen“. Dabei handelt es sich aber nicht um die verschiedenen Stationen von Walter Benjamins Leben, Die Librettistin und gleichzeitig auch Regisseurin Yona Kim sagt dazu: „Es geht nicht darum, die Biografie von Walter Benjamin nachzuerzählen, vielmehr ist es der Versuch eines Musiktheaters, das in seiner Dramaturgie die magische Gangart seines radikal grenzgängerischen Denkens aufnimmt, das kein abgeschlossenes Denkgebäude, kein Zuhause suchte, sondern das rastlose Reisen selbst war.“ Allerdings hat Yona Kim in ihr Libretto eine solche Fülle von philosophischen und weltanschaulichen Gedanken eingebracht, dass der Zuschauer es schwer hat, ihnen zu folgen.
Walter Benjamin befindet sich auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus. Er begegnet den Personen, die in seinem Leben eine besondere Rolle gespielt haben. Das sind Hannah Arendt, mit der er sich im Pariser Exil befreundete, Gershom Sholem, ein Freund aus Studententagen, Dora Kellner, mit der er verheiratet war, die Schauspielerin Asja Lãcis, die ihn zum Marxismus bekehren wollte und seine Geliebte wurde sowie – bei aller Gegensätzlichkeit -auch Bertolt Brecht.
Alle beschwören Benjamin, aus Europa zu fliehen. Der Stand der politischen Entwicklung wird laufend vom Chor gemeldet – etwa der Pakt zwischen Hitler und Stalin und der Einmarsch in Polen. Immer wieder gibt es gedankliche Rückblicke von Walter Benjamin. Seine Kindheit in Berlin wird erwähnt, die Zeit der Weimarer Republik, sein Aufenthalt bei Brecht in Skovsbostrand oder seine Zeit in Paris.
Trotz der zeitlichen und räumlichen Sprünge wird das Bühnenbild von Heike Scheele durchgängig beibehalten: eine monumentale Halle in einem teilweise zerstörten Gebäude. Es ist eine Art Wartehalle für die Reise ins Ungewisse, in der sich beeindruckend ein Koffer an den anderen reiht. Aber noch mehr erinnert sie an die Ruine einer riesigen Bibliothek. Es ist eine bunte Gesellschaft, die sich dort aufhält. Blickfang ist Asja Lãcis in ihrem langen, knallroten Paillettenkleid, zu dem sie eine russische Militärmütze trägt. Sie wirkt wie ein exotischer Paradiesvogel, was durch die blitzenden Koloraturen von Lini Gong noch unterstrichen wird. Der Liebesziehung zwischen ihr und Walter Benjamin geben die Librettistin (und die Regisseurin!) breiten Raum. Überhaupt gibt sich die Regie so detailverliebt, dass man alle kleinen Begebenheiten gar nicht so schnell erfassen kann. Es passiert in jeder Ecke etwas. Das von Asja gegründete Kindertheater wird von den Hamburger Alsterspatzen (Einstudierung Jürgen Luhn) vorgeführt, ebenso die Schachpartie zwischen Brecht und Benjamin. Die mal kraftvoll ausgesungenen, mal geflüsterten Chorauftritte geraten eindrucksvoll (Einstudierung Eberhard Friedrich).
Peter Ruzicka hat die musikalische Leitung am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters persönlich übernommen. Seine Musik ist in den reinen Orchesterpassagen, von denen es viele gibt, am eindrucksvollsten. Hier entwickelt sie eine überwältigende Kraft, eine mitunter betörende Sinnlichkeit. Was die Pauken und das schwere Blech an Urgewalt entfesseln, ist ein besonderes Hörerlebnis. Dann gibt es (speziell in der sechsten Station) eine ätherisch verklärte Innigkeit, ein raffiniert aufgebautes Klanggeflecht, das entfernt an „Parsifal“ erinnert. Die letzte Szene wirkt da musikalisch fast überflüssig.
Abgesehen davon, das viele Texte gesprochen und nur von Musik untermalt werden, ist Ruzickas Behandlung der Singstimmen vor allem dem Sprechgesang verpflichtet, auch wenn die eine oder andere „Kantilene“ aufblitzt.
Die Maske hat den Bariton Dietrich Henschel perfekt in Walter Benjamin verwandelt. Er gestaltet seine Partie mit sonorem Klang durchweg überzeugend. Das gilt auch für die anderen Partien, insbesondere für die bereits erwähnte Lini Gong, aber auch für Dorottya Láng (Hanna Arendt), Andreas Conrad (Bertolt Brecht), Tigran Martirossian (Gershom Sholem) und Marta Swiderska (Dora Kellner). Obwohl das Werk durchaus schwere Kost ist, konnten sich Peter Ruzicka und alle Mitwirkenden den uneingeschränkten Jubel des Publikums sichern.
Wolfgang Denker, 04.06.2018
Fotos von Bernd Uhlig