Aufführung am 07.01.2018
Worum geht es in Humperdincks erfolgreicher Oper HÄNSEL UND GRETEL (basierend auf einem Text seiner Schwester, unter Mithilfe verschiedener anderer Mitglieder der Familie – viele Köche …), wenn man mal ein bisschen an der lackierten Märchenoberfläche kratzt? Natürlich geht es um Armut und Hunger, doch auch um eine überforderte Mutter, um einen alkoholisierten Vater, um religiösen Fatalismus („Wenn die Not aufs Höchste steigt, Gott der Herr die Hand uns reicht“), um Träume und Hoffnungen auf ein besseres Leben, um Verlockungen und Versuchungen. Genau diese Probleme hätte der russische Regisseur, Kostüm- und Bühnenbildner, das Allroundgenie Kirill Serebrennikov, gerne in Stuttgart in einer multimedialen Inszenierung auf die Bühne gebracht – man beachte den Konjunktiv. Denn das russische Justizsystem (Willkür?) machte dem ganzen Projekt einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Im Mai wurde die Wohnung Serebrennikovs (er ist Leiter des Gogol-Centers in Moskau) durchsucht, im August wurde er unter Hausarrest gestellt. Dieser ist immer noch nicht aufgehoben, der Prozess soll im Januar stattfinden (im Raum steht eine etwas undurchsichtige Anklage wegen Veruntreuung von Fördermitteln, doch will man wohl eher am Regimekritiker Serebrennikov ein Exempel statuieren, hat er sich doch z.B. deutlich gegen den in Russland wieder aufflammenden Stalinkult ausgesprochen). Angedroht ist eine 10jährige Haftstrafe, eventuell auch erst mal eine Verlängerung des Hausarrests (inklusive Kontakt- und Internetverbots). Angesichts dieser widrigen Umstände sah sich die Oper Stuttgart nun mit der Frage konfrontiert, ob und wie die Premiere überhaupt ohne anwesenden Regisseur stattfinden kann. Glücklicherweise war ein Film, den Serebrennikov als Vorbereitung zu Jahresbeginn in Ruanda gedreht hatte, bereits fertig gestellt. Die Oper Stuttgart hat nun diesen Film verwendet, das Orchester auf die leere, schwarze Bühne gestellt und alle Sängerinnen und Sänger in Strassenkleidung vor dem Orchester auf Stühlen platziert. Sie machen wenig (aber genug) an Aktion auf der Bühne, denn die eigentliche Geschichte wird von den beiden ruandischen Kindern in einer Art Dokusoap dem Publikum näher gebracht. Das mag zuerst mal etwas befremdlich wirken (Kinder – und Erwachsene auch – müssen unbedingt auf diese Art der Inszenierung vorbereitet werden), doch je länger der Abend dauert, desto berührender und schlüssiger wird er. Achtung: Es ist NICHT die Inszenierung Serebrennikovs, sondern „nur“ eine Arbeit des gesamten Teams der Oper Stuttgart, erstens um ein Zeichen der Solidarität mit dem Schicksal des Regisseurs zu setzen und zweitens natürlich auch, um die Vorstellungen zu retten. Die von Serebrennikov entworfenen Bühnenbilder und Kostüme sind eingelagert, damit der Regisseur nach seiner Freilassung (hoffentlich nicht erst in zehn Jahren) diese Arbeit in Stuttgart fortsetzen und zu Ende bringen kann. Diesem Vorgehen haben sowohl der Regisseur (über seinen Anwalt) als auch die Nachfolgeintendanz der Oper Stuttgart zugestimmt.
Zuerst zum Film: Der ist wirklich unglaublich gut gemacht, da sind alle Ingredienzien der Opernhandlung drin verarbeitet, die Szene mit dem Milchkrug, die Kinderarbeit (hier Körbe flechten), die allgemeine Armut, die mit der Situation überforderte Mutter, der betrunkene Vater, aber auch die ungebrochene Lebenslust der ruandischen Bevölkerung, trotz des Hausens in Lehmhütten mit Wellblechdächern (wunderbar das poetische Lichtspiel mit dem einfallenden Licht durch die Löcher im Dach), die Wunden des grausamen Bürgerkriegs zwischen Hutus und Tutsis (Ein Männlein steht im Walde – dazu ein Schwerinvalider, von AIDS gezeichnet und mit Fussprothese), ein „heiliger“ Albino, der die Kinder weiss schminkt („Der kleine Sandmann bin ich“), das Irren entlang der Autostrasse (Verirren der Kinder im dunklen Wald), Konfrontation mit den Bildern der „missing persons“ während der Traumsequenz, das Aufwachen mit dem Taumännchen (eine schwarze Reinigungskraft im Flughafen), das Betreten einer ganz anderen Welt (nicht ein Lebkuchenhäuschen, sondern der Candy Store im Shoppingcenter), die Begegnung der beiden schwarzen Kinder mit der westlichen Konsumwelt in der Stuttgarter Innenstadt, die staunenden Augen, wenn sie das erste Mal einen Waschraum und eine Toilette sehen, oder wenn sie dann im Foyer und im Zuschauersaal des Württembergischen Staatstheaters ankommen – sehr berührend und bewegend, und man vergisst die karge Szenerie auf der Bühne, versinkt in die Handlung des Stummfilms, geniesst die wunderbar dazu passende Musik Humperdincks. Für die Hexenszene hatte Serebrennikov noch keine Anweisungen und auch keine Videosequenz hinterlassen, da musste das Team in Stuttgart improvisieren. Anscheinend ganz bewusst setzte man dann da auf eine gewisse szenische Hilflosigkeit, Mutter und Vater und Sand-/Taumännchen traten als Terroristen (?) auf, zum Teil wurde das Publikum live gefilmt (wie ausgelutscht – provoziert Lacher und hihi-Winken). Aber ich vermute, dass dies eben ganz gezielt so peinlich gemacht wurde, um bewusst zu machen, wie wichtig die Hand eines Regisseurs bei einer Opernarbeit eben ist, auch wenn viele immer sagen, man solle die Sänger einfach machen lassen, dann werde es besser. Ist eben DOCH nicht so einfach … .
Aus dem sehr stimmig besetzten Ensemble ragten für mich Catriona Smith (Mutter), Diana Haller (Hänsel) und Esther Dierkes (Gretel) heraus. Gerade Catriona Smiths Interpretation der Mutter war ein Ereignis: Keine keifende Furie (wie leider so oft) sondern jeder Ton sauber intoniert, mit Gefühlen aufgeladen, so dass man mit dieser verzweifelten und überforderten Frau mitfühlen und mitleiden kann. Wunderbar auch der Hänsel von Diana Haller, burschikos, mit sattem Mezzosopran, aber leicht und flexibel in der Stimmführung. Genauso die Gretel von Esther Dierkes, mit leuchtend-jugendlichem Sopran herrlich aufblühend. Simon Bailey sang einen kernigen Peter (Vater), spielfreudig innerhalb des begrenzten Raums rund um die paar Stühle. Tadellos bewältigte Aoife Gibney die Auftritte als Sandmännchen und Taumännchen, mit glockenreiner Stimme gestaltete sie die beiden schönen Arien. Nicht nur szenisch ein Problem stellte die Hexe dar: Einmal mehr hatte man sich dafür entschieden, diese Rolle mit einem Tenor zu besetzen. Humperdinck selbst hat zwar diese Möglichkeit akzeptiert, aber nie so richtig gutgeheissen. Ich weiss nicht, welcher Teufel die Opernhäuser weltweit reitet, dass sie immer wieder auf diese Travestie kommen (hier in Stuttgart allerdings war Torsten Hofmann nicht als Frau verkleidet, sondern trat in T-Shirt und Jeans auf). Eine Alt- oder Mezzosopranstimme klingt in dieser Rolle einfach besser, glaubwürdiger, bedrohlicher – man höre sich z.B. einmal an, wie Christa Ludwig das gestaltete (unter Kurt Eichhorn oder Colin Davis). Torsten Hofmann machte das zwar sauber, aber vielleicht doch eine Spur zu steril.
Dadurch dass das riesige „Wagner-Orchester“, welches Humperdinck (er assistierte Richard Wagner bei der PARSIFAL-Uraufführung in Bayreuth) für seine Märchenoper einsetzte, auf der Bühne zu sehen war, konnte man die orchestralen Reichtümer der Partitur ganz besonders schätzen und geniessen. Willem Wentzel und das Staatsorchester Stuttgart bevorzugten einen eher harschen, zum Teil geradezu faserigen Gesamtklang, eher auf der unsentimentalen Seite, was dann aber wiederum auch zu der doch eigentlich traurigen Geschichte passte, denn das Ende ist zwar von der Hoffnung auf ein besseres Leben jenseits der Armut geprägt, doch steht diese Hoffnung, wie wir alle wissen, auf tönernen Füssen.
Inhalt:
Die beiden Kinder des Besenbinders Peter und seiner Frau Gertrude leben in Armut und leiden Hunger, es gibt nichts anderes als trockenes Brot zu essen. Doch von der Nachbarin hat die Familie einen Topf mit Milch erhalten. Aus lauter Vorfreude auf etwas Abwechslung im Speiseplan, beginnen die Kinder ausgelassen zu tanzen. Die Mutter kehrt erschöpft von der Arbeit zurück, schilt die Kinder als Faulpelze und will sie bestrafen. Dabei fällt der Milchtopf vom Tisch und zerbricht. Nun jagt die Mutter die Kinder hinaus in den Wald, um Beeren zu suchen. Der Vater kehrt angesäuselt nach Hause zurück. Heute liefen die Geschäfte nicht schlecht und er hat einen Korb mit Lebensmitteln mitgebracht. Als er jedoch erfährt, dass die Kinder im Wald sind, schlägt seine aufgeräumte Stimmung in Besorgnis um, da er weiss, dass eine Hexe im Wald wohnt, welche den Kindern gefährlich werden könnte. Die Eltern machen sich auf, um nach den Kindern zu suchen.
Die Kinder haben unterdessen ihren Korb mit Waldbeeren gefüllt, doch kurz darauf die Beeren selber gegessen. Langsam wird es dunkel, sie finden den Heimweg nicht mehr, sie bekommen Angst. Das Sandmännchen erscheint und beruhigt Hänsel und Gretel. Bevor sie einschlafen, sprechen sie ihr Abendgebet. Vierzehn Engel steigen herab, um die Kinder im Schlaf zu beschützen. Am nächsten Morgen werden sie vom Taumännchen geweckt. Da erscheint vor ihren Augen auch schon ein Lebkuchenhaus. Sie naschen davon. Die Hexe will sie hineinlocken. Widerstand ist zwecklos, der Zauberstab der Hexe bannt die Kinder. Während Hänsel im Käfig gemästet wird, muss Gretel im Haus der Hexe helfen und alles für den kannibalischen Genuss der Hexe herrichten. Gretel hat sich jedoch den Zauberspruch der Hexe gemerkt und befreit ihren Bruder aus dem Käfig, während die Hexe in grausam-gieriger Vorfreud auf dem Besen durch die Lüfte tanzt. Durch eine List gelingt es den Kindern, die Hexe in den Ofen zu schieben, der Ofen stürzt zusammen, die Lebkuchenkinder, die einen Zaun um das Grundstück der Hexe darstellten, erwachen durch Gretels Berührungen und Hänsels Hilfe mit dem Zauberstab der Hexe zum Leben. Von ferne ertönt die Stimme des Vaters. Die Eltern schliessen die Kinder in die Arme. Alle stimmen ins Gebet des Vaters ein: „Wenn die Not auf’s Höchste steigt, Gott, der Herr die Hand uns reicht.“ Unterdessen ist die Hexe selbst zum Lebkuchenfrauchen geworden.
Kaspar Sannemann 12.01.2018
Bilder siehe weiter unten "Erstbesprechung"