
Trotzgöre mit blauem Haar
Juliette ist eine Unangepasste. Dafür spricht schon ihre Haarfarbe – ein verwaschenes Blau, das gewiss den Unmut ihrer Eltern erregt, Roméo aber eher anzieht. Auch die Kleidung der Capulet-Tochter mit Jeans und Hoodie ist eigenwillig und vor allem nicht standesgemäß. Aber Mariame Clément kümmert sich bei ihrer Neuinszenierung von Gounods Drame lyrique in der Staatsoper nicht um historische Fakten der Vorlage von Jules Barbier und Michel Carré nach Shakespeares Tragödie. Radikal versetzt sie das Stück in die Gegenwart und hat dabei die Unterstützung der Ausstatterin Julia Hansen. Diese stellt ein hässliches Wohnhaus auf die Bühne, wo zu Beginn Julias Geburtstag gefeiert wird. Ein Happy Birthday-Schriftband und Luftballons garnieren die Szene, dazu die Gäste in schäbigen Klamotten vom Wühltisch. Wieder einmal ist die triste Optik bestürzend, gipfelnd in einer maroden Basketball-Sporthalle, wo der aggressive Streit zwischen den Montagues und Capulets stattfindet, Juliettes Mädchenzimmer mit Postern an den Wänden und Nippes im Regal, wo die Liebenden ihre Hochzeitsnacht verbringen, und einem schäbigen Pathologie-Saal, wo Juliette im weißen Totenhemd auf dem Seziertisch liegt und von Helferinnen gewaschen wird.

An der szenischen Ödnis ändern auch die von Sébastien Dupouey erdachten Videos nichts, welche das Geschehen überblenden – surreal als Kaleidoskop mit flatternden Schmetterlingen und einem Blütenteppich oder romantisch mit nächtlichen Naturstimmungen samt Sternenhimmel. Nach der Premiere vor einem Jahr gab es in der 10. Vorstellung am 29. Oktober 2025 eine Neubesetzung, welche die der Premiere um Längen übertraf. Lisette Oropesa war nun die Juliette und überraschte mit totaler Aneignung von Cléments Regiekonzept samt zweifelhafter Personenführung. Ihr Sopran besitzt eine individuelle Farbe und den gebührend leuchtenden, jugendlichen Klang für die Rolle. Die Koloraturen in „Je veux vivre“ perlen vollendet, die zweite, sogenannte „Gift“-Arie („Dieu! quel frisson“) singt sie mit Emphase und dramatischem Impetus. Der größte Erfolg der Aufführung gebührte ihr, denn Charles Castronovo als ihr Roméo imponierte zwar mit prachtvollem Tenormaterial und prunkenden Spitzentönen, doch fehlt seinem zu dunkel getöntem Tenor jugendliche Poesie. Im Spiel voller Leidenschaft und Empathie übertraf er seinen Vorgänger beträchtlich. Bei den Nebenrollen überzeugte vor allem Renato Girolami als Frère Laurent, der hier als Religionslehrer in einer Schulklasse mit Bankreihen und Wandtafel fungiert und seltsamerweise das junge Paar trauen kann. Stéphano in Gestalt von Rebecka Wallroth ist hier ein Wesen von androgyner Natur, singt das Chanson „Que fais-tu, blanche tourterelle“ mit potentem Mezzo.

Der Staatsopernchor (Einstudierung: Gerhard Polifka) fungiert im Prologue als Theaterzuschauer auf der Bühne, überzeugt gesanglich vor allem im trauernden Gesang nach Tybalts Tod „O jour de deuil!“. Francesco Ivan Ciampa malt mit der Staatskapelle Berlin die Lyrismen der Komposition stimmungsvoll aus und sorgt auch für genügend Duft und Farbenreichtum. Am Ende wurde das gesamte Ensemble herzlich gefiert, allen voran Lisette Oropesa, die mit diesem Auftritt ihren Rang als weltweit führende lyrische Koloratursopranistin bestätigen konnte.
Bernd Hoppe 31. Oktober 2025
Roméo et Juliette
Charles Gounod
Staatsoper unter den Linden, Berlin
10. Aufführung am 29. Oktobert 2025
Premiere am 19. November 2024
Inszenierung: Mariame Clément
Musikalische Leitung: Francesco Ivan Ciampa
Staatskapelle Berlin
