„Das ist nicht die Lerche … das ist die süße Nachtigall!“
Es mussten mehr als 100 Jahre vergehen, bis heute das Drame Lyrique „Roméo et Juliette“ in 5 Akten von Charles Gounod (1818-1893) wieder in einer Neuinszenierung an der Berliner Staatsoper präsentiert wird. Für Jules Barbier und Michel Carré – beide haben auch den Text zur Oper „Faust“ geschrieben – ist Shakespeare die Vorlage für das Libretto des am 27. April1867 im Pariser „Théâtre-Lyrique“ anlässlich der Weltausstellung mit triumphalem Erfolg uraufgeführten Werks. Bereits im November des gleichen Jahres folgt die deutsche Erstaufführung in Dresden. Vor allem in Frankreich wird „Roméo et Juliette“ bald der Faust-Oper vorgezogen. Die Oper ist ein „Interieur privater Tragödien“ (Carl Dahlhaus), sie gilt als eines der wichtigsten Werke des romantischen Opernrepertoires. Gounod verzichtet auf alle die in seinen Augen unwichtigen Äußerlichkeiten. So erreicht das Werk eine große private Dichte und Innigkeit. Herrlichen Duetten, komponiert für die beiden Liebenden, stehen großartige Chortableaus gegenüber. Ein von Bizet in den vierten Akt eingefügtes „sensationell dramatisches“ zweites Bild hat sich zum Glück nicht durchgesetzt. Die Personen und die Schauplätze sind im Wesentlichen die gleichen wie bei Shakespeare: es ist die Geschichte zweier junger Menschen im Verona des 15. Jahrhunderts. Beide, Kinder zweier miteinander verfeindeter Familien, verlieben sich ineinander und zerbrechen an der Feindschaft ihrer Clans. Erst ihr Tod kann diese Feindschaft beenden. Das ist ein immer währendes Thema und bis heute auf der Bühne, in der Literatur, im Film und in der Musik ungeheuer populär.
Mariame Clément, erstmals mit einer Regiearbeit an der Staatsoper betraut, versucht, eine alte, hinlänglich bekannte Geschichte aus der Perspektive Julias neu zu erzählen und hofft auf die Bereitschaft des Publikums, ihr dabei zu folgen: „Wenn wir uns verlieben, verlieben wir uns in einer Welt, in der es Romeo und Julia schon gibt“. Sie vermeidet bewusst jede Romantisierung. Aber, das Publikum mitzunehmen, gelingt ihr nicht. Das Vorhaben ist nach meiner Meinung auf ganzer Linie gescheitert. Die Sicht der Julia auf ihre Umgebung hat sich in dem Augenblick, als sie sich in Roméo verliebt, erledigt. Alles wirkt wie eine Inszenierung aus den 50er Jahren, kleinbürgerlich und piefig. Prolog und Schlussszene mit Chor im Saalgestühl auf der Bühne in Blickrichtung Publikum, eine enge „Puppenhaus-Architektur“, Kostüme im Stil der 50er Jahre, einfallsloses „Ballgetümmel“ mit lächerlicher Strohhutverteilung, das Aschenputtelaussehen der Juliette – übrigens, kein junges Mädchen aus einer wohlhabenden Familie würde sich sein Zimmer heute so einrichten wie sie – all das ist längst überholt. Für Bühnenbild und Kostüme zeichnet Julia Hansen verantwortlich. Glücklicherweise schaffen die Ausblendung des Bühnenhintergrunds und die Videoprojektionen eines Schmetterlings – eigentlich Symbol des Lebens – der sich wandelt in einen Nachtfalter, und damit zum Todesboten wird, von Sébastien Dupouvey immer wieder stille und intime Momente. Die Qualen, die Juliette nach der Einnahme des Scheingifts durchleidet, werden tänzerisch dargestellt, choreografiert von Mathieu Guilhaumon.
Die musikalische Leitung des Abends hat Stefano Montanari, Chefdirigent des Orchestra del Teatro Petruzzelli in Bari – auch er ein Debütant an der Berliner Staatsoper. Er macht sich zunächst als Instrumentalist und Dirigent der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts einen Namen. Inzwischen führen ihn Gastengagements an verschiedene Bühnen Europas. Routiniert, aber ohne den Nerv für das Besondere und den Esprit der französischen Musik und leider, ohne die Qualitäten der Staatskapelle herauszufordern, schöpft er die Möglichkeiten der Oper nicht aus. Alles wirkt halbfertig. Des Öfteren hat er Probleme in der Feinabstimmung zwischen Ensemble und Orchester. Erst im dritten Akt „rauft“ man sich so einigermaßen zusammen, erst dann findet auch der Chor, Einstudierung; Dani Juris, zu einem homogenen Klang. Für die Sänger gilt in der französischen Musik: diction, clarté, élégance! Das A und O ist die Sprache. Der Chor, wie die meisten Solisten, findet dazu keinen Bezug.
Der Glanzpunkt der Aufführung ist Elisa Dreisig als Juliette. Sie ist geboren in Frankreich und mit der Schönheit und den Anforderungen des französischen Gesangs bestens vertraut. Über das Nachwuchsstudio der Staatsoper wird sie festes Ensemblemitglied des Hauses und ist heute gefragter Gast auf den Podien der internationalen Konzert- und Opernhäuser. 2023 singt sie die Partie der Juliette, wie sie selbst sagt, eine ihrer Lieblingspartien, mit großem Erfolg in der opulenten, temperamentvollen Inszenierung an der Pariser Opéra Bastille. Die Walzer-Ariette „Ah! Je veux vivre“ im ersten Akt und Szene und Arie im vierten Akt „Quel frisson court dans mes veines? Amour, ranime mon courage“ werden zum bejubelten Ereignis. Als Roméo ist ihr Partner der aus Samoa stammende Tenor Amitai Pati. Er macht in einer Aufführung von Bizets „Les Pêrcheurs de Perles“ 2019 in Paris auf sich aufmerksam. Seit 2020/2021 ist er auch auf deutschen Bühnen präsent. Seine lyrische Stimme ist mit dieser Partie allerdings noch überfordert, im Piano sehr schön, aber Höhe und Strahlkraft gelingen nur mit forciertem Aufwand. Anrührend gestaltet er die Cavatine im zweiten Akt „L´amour! L´amour / Ah lève – toi soleil“ und das Duett mit Juliette „Ȏ nuit divine! Je t´implore“. Zu erwähnen ist unbedingt Ema Nikolavska als Stéphano. Ihr Chanson „Depuis hier je cherche vain mon maître“ wurde zu Recht mit großem Beifall bedacht. Das gilt ebenso für Jaka Mihelač in der „Ballade de la Reine Mab“. Nicolas Testé als Frère Laurent, der als Religionslehrer schnell mal im Klassenraum in Anwesenheit der Schüler eine Trauung vollzieht und so nebenbei mit der Amme Gertrude Marina Prudenskaya turtelt, verliert die ihm für die Handlung zustehende Würde und Bedeutsamkeit. Mit Szene und Duett „C´est là! / Salut tombe aux sombre et silencieux!“ endet das Drama von Juliette und Romeo und die Tragödie einer verkorksten Inszenierung. Sehr, sehr schade!
Bernd Runge, 10. November 2024
Roméo et Juliette
Charles Gounod
Staatsoper Unter den Linden, Berlin
Besuchte Premiere am 10. November 2024
Inszenierung: Mariame Clément
Musikalische Leitung: Stefano Montanari
Staatskapelle Berlin