Lieber Opernfreund-Freund,
Christoph Willibald Glucks wohl beliebteste Oper Orpheus und Eurydike ist derzeit am Staatstheater Darmstadt zu sehen. Das Regieteam um Søren Schuhmacher hat dabei einen zutiefst psychologischen Ansatz gewählt. Der geht nicht immer auf, Sänger und Orchester hingegen wachsen am gestrigen Abend über sich hinaus und präsentieren Wunderbares.
Der Orpheus-Mythos fasziniert seit Jahrtausenden immer wieder Kunstschaffende aller Sparten und vielleicht beschäftigt sich die erste Oper der Musikgeschichte, Claudio Monteverdis 1609 entstandener Orfeo, nicht zufällig mit diesem Thema; gut 150 Jahre später entstand dann als eine von vielen weiteren Opernversionen die Christoph Willibald Gluck. Zu verführerisch ist die Geschichte des alle Zuhörer betörenden Sängers, der den Tod seiner Frau nicht akzeptieren und sie ins Reich der Lebenden zurückholen will, in der so viele Symbolismen liegen, die allerhand Interpretations- und Projektionsspielraum bieten. Bei Søren Schuhmacher ist die Story eine Parabel für die inneren Kämpfe Orphées. Deshalb hat der designierte Intendant des Theaters Hagen in seiner Regiearbeit eine zusätzliche Figur hinzu erdacht, die im Programmheft mit „Mort/Psyché“, also „Tod/Psyche“ bezeichnet ist und für den inneren Dämon Orpheés steht, seine Ängste und Zweifel, aber auch seine dunkle Seite symbolisiert. Sie bildet damit den Gegenpol zu Amor, der Liebe stiften will, so dass in der Produktion gewissermaßen Engel und Teufel gegeneinander antreten. Wenn alles eine psychologische Betrachtung der Orpheus-Figur ist, ist es auch nur folgerichtig, dass am Ende auch weiterhin Eurydikes Tod steht, ein Happy End bleibt den beiden Liebenden versagt. Dass es bei dem Geschehen, das auf der Einheitsbühne von Norbert Bellen, die den Backstagebereich einer Theaterbühne darstellt und vor symbolträchtigen Requisiten nur so strotzt, stattfindet, auch um das Spannungsfeld zwischen Künstler, Mythos und Mensch geht, wie Schuhmacher im Programmheft ausführlichst erläutert, erschließt sich mir beim Zuschauen nicht unmittelbar. Was aber bleibt sind starke, eindrucksvolle Bilder, die lange nachhallen.
Das hat nicht zuletzt mit Marcos Abranches zu tun, dem brasilianischen Tänzer, der die Abgründe in Orphées Seelenleben darstellt und auch für die Choreografie verantwortlich zeichnet. Der Künstler ist durch Choreoathetose beeinträchtigt und doch gelingt ihm eine intensive, stets bewegende, teils verstörende Darstellung des inneren Dämons der männlichen Titelfigur. Die findet in Lena Sutor-Wernich eine nahezu ideale Gestalterin: ihr eindrucksvoller Mezzo verfügt über eine saftige Tiefe, weiche Mittellage und betörende Höhen. Ihr fesselndes, emotionsgeladenes Spiel tut ein Übriges, dass man gar nicht weghören und -sehen mag. Jana Baumeister ist eine wunderbar lyrische Eurydike und Marie Smolka überzeugt als Prunkversion des Amor mit einem Höchstmaß an Emotion, gepaart mit eindrucksvoller Höhe und Tönen, die fein wie Seidenfäden klingen.
Heimlicher Star des Abends ist mit Sicherheit der von Alice Meregaglia betreute Chor, der vom Rang, aus dem Graben oder von der Hinterbühne zu singen hat und dadurch sein ungeheures Klangspektrum aufs Vortrefflichste präsentiert. Im Graben läuft der junge Darmstädter Kapellmeister Nicolas Kierdorf zu Höchstform auf, lässt den üppigen Klang der Berlioz-Version der Oper strahlen, erweist sich als regelrechter Farbenmaler und macht somit die künstlerische Seite des Abends perfekt.
Das voll besetzte Haus ist am Ende der rund eineinhalb Stunden gefesselt und begeistert zugleich, und auch ich kann Ihnen diesen zum Nachdenken anregenden Orpheus in jedem Fall empfehlen.
Ihr
Jochen Rüth
21. Oktober 2024
Orphée et Eurydice
Oper von Christoph Willibald Gluck
(Fassung von Héctor Berlioz)
Staatstheater Darmstadt
Premiere: 6. Oktober 2024
besuchte Vorstellung: 20. Oktober 2024
Inszenierung: Søren Schuhmacher
Musikalische Leitung: Nicolas Kierdorf
Staatsorchester Darmstadt
Weiter Vorstellungen: 7. und 30. November, 12., 23. und 25. Dezember 2024 sowie 10. Januar 2025