Auch in diesem Jahr haben wir unsere Kritiker wieder gebeten, eine persönliche Bilanz zur zurückliegenden Saison zu ziehen. Wieder gilt: Ein „Opernhaus des Jahres“ können wir nicht küren. Unsere Kritiker kommen zwar viel herum. Aber den Anspruch, einen repräsentativen Überblick über die Musiktheater im deutschsprachigen Raum zu haben, wird keine Einzelperson erheben können. Die meisten unserer Kritiker haben regionale Schwerpunkte, innerhalb derer sie sich oft sämtliche Produktionen eines Opernhauses ansehen. Daher sind sie in der Lage, eine seriöse, aber natürlich höchst subjektive Saisonbilanz für eine Region oder ein bestimmtes Haus zu ziehen.
Nach der Deutschen Oper Berlin blicken wir heute auf das Staatstheater Meiningen.

Beste Produktion und Regie:
Castor et Pollux von Jean-Philippe Rameau: Adriana Altaras, ein Ausbund an Temperament und Ideen, verlegt die Handlung der 300 Jahre alten Oper unaufdringlich in die Gegenwart und verpasst der Tragödie um Götter und Sterbliche wohldosiert Seitenhiebe und feinste Komik.
Entdeckung des Jahres:
The Wreckers – Die Strandräuber von Ethel Smyth: Regisseur Jochen Biganzoli lässt dieses hochdramatische Monumentalwerk einer begnadeten Komponistin zu einer fesselnden Oper werden. Eine abgeschottete Gemeinschaft radikalisiert sich und lebt von Strandräuberei.
Knaller der Saison:
Jekyll and Hyde, Musical von Frank Wildhorn und Steve Cuden: Cusch Jung spitzt die alte Horrorstory so ausgefeilt zu, dass der Adrenalinspiegel steigt, Rührung flutet und mehr als ein 08/15-Musical entsteht.
Beste Wiederaufnahme:
Madama Butterfly von Giacomo Puccini: Regisseur Hendrik Müller, jetzt gefeierter Operndirektor in Flensburg, sieht seine Cio-Cio San nicht als Opfer des Geliebten, sondern als das ihrer obsessiven Träume. Kein Kitsch, aber witzige Anspielungen auf japanische und amerikanische Klischees.
Beste Gesangsleistung Hauptrolle (Damen):
Lena Kutzner zeigt als Isolde ihre gesamte stimmliche Vielfalt in meisterhaft präziser Ariosität und beweist ihr sensibles schauspielerisches Talent mit jeder Faser.
Punktgleich: Emma McNairy als Donna Elvira in Don Giovanni.
Beste Gesangsleistung Hauptrolle (Herren):
Shin Taniguchi: Der geschmeidige Bariton ist der geborene Don Giovanni von diabolischer und kalter Eleganz.
Beste Bühnenbilder:
Susanne Gschwendner kreierte in Tristan und Isolde ein Multifunktionsteil, das sich flugs umbauen lässt und sich als Bett, Kutsche, Altar oder als Boot durch imaginäre Welten navigieren lässt. Die umwerfenden Videoprojektionen machen sprachlos.
Bildhauer Sir Tony Cragg schockiert und fasziniert in Castor et Pollux mit fünf riesigen geometrischen Skulpturen und arbeitet ebenfalls mit großformatigen Projektionen, die seine filigranen Zeichnungen im Gleichklang mit der Musik verweben.
Bemerkenswertes Gastdirigat:
Christopher Moulds in Castor et Pollux, ein Spezialist für die französische Barockoper, führt die Meininger Hofkapelle zu einer emotionsstarken und präzisen Interpretation.
Beste Dirigate:
GMD Killian Farrell ist besessen, beseelt, begnadet und lässt die Musiker wie das Publikum Kompositionen in all ihrer Besonderheit erkennen und erleben. Seine Werkseinführungen öffnen die Sinne, wecken ein ganz anderes Gespür für die Besonderheiten der Musik und vor allem der Komponisten. Die 10. Sinfonie von Dimitri Schostakowitsch wird wohl jedem als gewaltiges Musikereignis in Erinnerung bleiben. Die Konzerte waren stets ausverkauft.
Hoftrauer:
2027/28 wechselt Killian Farrell an das Staatstheater Nürnberg und wird sich dort als Chefdirigent der Staatsphilharmonie annehmen. Schon jetzt fließen Tränen, aber mit diesem Karrieresprung erreicht er natürlich weitere Weihen.
Die Bilanz zog Inge Kutsche.