Premiere: 21.11. 2015. Besuchte Vorstellung: 30.12. 2019
„Ilker Arcayürek ist ein Rodolfo, der immer dann am besten ist, wenn er seine lyrischen Bekenntnisse in der Mittellage formulieren darf; das gelind Heldische einer strahlenden Höhe geht ihm leider ab.“ Vielleicht war ich damals, als die Premiere der Inszenierung von Alexandra Szémeredy und Magdolna Parditka über die Bühne des Nürnberger Staatstheaters ging, ein wenig ungerecht. Heute würde ich das „leider“ streichen – denn Ilker Arcayürek, der noch nach vier Jahren den Rodolfo singt und damit neben dem nach wie vor sehr schön artikulierenden Colline des Nicolai Karnolsky als einziger im Solistenensemble übrig geblieben ist, singt glücklicherweise so, wie er singt: empfindsam, mit einem Timbre, das man als „südamerikanisch“ bezeichnen könnte. Sein Rodolfo ist ein noch nicht ganz im Leben stehender, um sich kreisender, aber gutartiger Kerl, dem die Liebe zu Mimi – oder das, was er dafür hält – und ihr Tod spürbar nahe gehen, wofür es, wie gesagt, keiner „heldischen“, also brüllenden Höhe bedarf. Schon als Idomeneo und Odysseus hat dieser spielerisch, optisch und vokal sympathische Sänger ja gezeigt, wie differenzierte Charaktere auf der Opernbühne aussehen können.
Und Mimi? Sie ist bei Emily Newton gut aufgehoben: eine Frau, halb dem Typus der „femme fragile“ zugehörend, halb selbstbestimmt ihre Geschichte bis zuletzt meisternd. Ihre größten, anrührendsten Momente hat sie mit ihrem empfindungsreich gestaltenden Sopran im dritten Akt, also dem Abschiedsbild in dieser gelungenen, weil widerspruchsfrei in die frühe Pariser Nachkriegszeit transponierten Inszenierung. Sind diese emotionalen Höhepunkte natürlich? Die Frage stellt sich im Blick auf die Charaktere: Wachsen ihre Stimmen auch im Verlauf der Handlung, in der die vier „Helden“ eine wichtige Lebenslektion zu lernen haben? Zumindest braucht es eine Weile, bis Sangmin Lee seinen Marcello in sicheres vokales Gelände gebracht hat, nachdem er zunächst noch sein Stimmorgan in die Höhe presste. Dann aber spielt und singt er einen ergreifend ernsten, fast strengen Marcello: bisweilen fern von den neckischen Klischees des Mannes im Dauerkampf mit jener Frau, mit der er nicht zusammen leben kann, ohne die er jedoch auch nicht frustrationsfrei zu leben vermag.
Dieses Teufelsweib, das doch nur „frei“ sein will, wird an diesem Abend von Andromahi Raptis gebracht, die nicht nur in der Alcindoroschen Hundedressur entzückt. Großartig, wie sie zum einen die girrende Schlange gibt, die gern mit den schwarzen Army-Soldaten flirtet, zum anderen die „gute“ Freundin, der das Sterben Mimis so an die Nieren geht, dass ihr Mitleid tätig wird. Ebenbürtig: der Schaunard des Daeho Kim, der noch im Nürnberger Opernstudio steht, aber schon jetzt zeigt, was sein warmtönender Bass alles noch zu singen kann.
Der zweite Blick auf eine Inszenierung aber macht nicht nur mit neuen Sängern bekannt, die die Rollen mit neuem und anderem Leben erfüllen. War damals schon aufgefallen, dass der Spielzeughändler Parpignol nicht nur im abendlichen Treiben vor dem Café Momus, sondern auch im dritten Bild, das in dieser Inszenierung am selben Ort spielt, seine kleine, aber wichtige Rolle spielt? Präsentierte er am Heiligen Abend eine Mädchenpuppe, die an die „kleine“ Mimi erinnerte, so trat er auch, passend zu den parallelen Quinten am Beginn des dritten Akts, in der nächtlichen Szene auf, wo ihn Puccini und seine beiden Librettisten nicht verortet hatten. Macht das Sinn? Ja – denn der Akkord, mit dem er im zweiten Bild auftritt, ist jener, der zunächst über der Barrière d’enfer lastet. Eduard Hanslick, der sich auch im Fall Puccini schwer irrte, fand noch, dass diese parallelen Quinten von „aufdringlicher Hässlichkeit“ seien und keinen Sinn machten. Inszenierungen wie diese aber zeigen, dass eine „schöne Oper“, die das Weihnachtspublikum so begeistert, dass es in den leise verklingenden Schluss des ersten Bildes skrupellos hineinklatscht, durchaus „hässlich“ sein kann. Sie übersetzt Puccinis, Illicas und Giacosas Realismus in Bilder, die bis zum gewaltsamen Happening gehen. Kein Zweifel: Puccini und seine Librettisten hätten es abscheulich gefunden. Kein Grund für uns, nicht über die Charakterzüge der Bohemiens und ihrer Freundinnen nachzudenken – wozu nicht zum wenigsten der empfindsame Ton von Ilker Arcayüreks Stimme beiträgt.
Frank Piontek, 31.12. 2019
Fotos: © Pedro Malinowski (die Fotos zeigen nicht den erwähnten Sänger des Rodolfo, sondern Arthur Espiritu).