Es nennt sich: „Musikalisches Schauspiel“ – und es ist ein musikalisches Schauspiel. Vera Mohrs, Leiterin der Sparte Schauspielmusik am Staatstheater Nürnberg, hat zusammen mit Kostia Rapoport eine weitere „Alice in Wonderland“-Version vorgelegt, die sich schon deshalb gewaschen hat, weil sie das Prinzip der Sprachanalyse und -verdrehung auf die Spitze treibt; wäre ich ein Hase, ein Hutmacher oder eine Herzkönigin, würde ich mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen erst einmal minutenlang über die Themen/Begriffe/Modi „vorlegen“, „auf die Spitze“ (welche „Spitze“?), „treiben“ austauschen – ohne zu einem Ergebnis zu kommen, das irgendwie haltbar wäre.
So weit kommt man eben, wenn man zu tief in den Spiegel geschaut hat, den uns Lewis Carroll mit seinen beiden wundersamen Alice-Romanen vor die Nase gehalten hat. Alice-Versionen musikalischer Art gibt‘s einige: Opern, Ballette, Songs, das Spektrum ist groß. Sprache und Musik, wie verträgt sich das? Es verträgt sich sehr gut – zumal dann, wenn es das wahrlich musikalische, also musikdurchtränkte, -akzentuierte, -begleitete und überhöhte Schauspiel mit Mohrs und Rapoport zu tun hat. Denn sie bieten wesentlich mehr als die acht Songs, die zum Teil schon auf einigen Scheiben des Duos, das man gern als „Pop-Duo“ bezeichnet, publiziert worden sind; „Aber trotzdem“, „kein Platz“ und das finale „Nicht schreien“ finden sich noch nicht auf den Alben, die zwischen 2013 und 2022 veröffentlicht wurden. Mindestens 75 Prozent der Spielzeit, um‘s mal trocken numerisch auszudrücken, begleiten uns die beiden Musiker und die Spieler, die zum Akkordeon, zur Violine, zur Tröte greifen, um mit oft sehr einfachen Mitteln einen Soundtrack zu kreieren, der punktgenau aufs Wort fällt. Mohrs und Rapoport sitzen am Synthesizer (Alice wirft sich einmal drauf, so dass es scheppert) und Klavier, Mohrs spielt Violoncello, der Gong wird bedient, das Glasspiel entwirft die Melodie zu den Girlanden des Pianos. Der Leichtigkeit des musikalischen Seins entspricht die Hurtigkeit, mit der die Figuren sich die Sprachbälle zuwerfen – sie bewerfen damit auch Alice, die, ganz wie bei Carroll, drei grundlegende Fragen stellt: „Wer bin ich? Wo bin ich? Wie komme ich hier raus?“ Das 90 Minuten kurze wie kurzweilige Stück ist, obwohl der Hutmacher nicht „der Hutmacher“ und die Katze im Programmheft nicht „die Katze“ heißen müsste, weil sie eher Sprechfiguren als Charaktere sind – das Stück ist, nicht zuletzt mit seinen vielen wörtlichen Übernahmen aus der literarischen Vorlage, eine ziemlich genaue Nachzeichnung dessen, was sie ausmacht: die Lust an der Unlogik, dem Rätsel, der Verständnislosigkeit. Konnte man den Roman von 1865 problemlos auf die viktorianische Umwelt und ihre konformistischen Regeln beziehen, wird das neue Stück zum sprachanalytischen Beispielbuch, das sich im Hinblick auf Habermas‘ Diskurstheorie ins Allgemeine weitet. Ich weiß nicht, wie der Professor den Text lesen würde, aber ich bin sicher, dass er genauso laut lachen würde wie manch Zuhörer der Nürnberger Produktion. Denn in der totalen Hinterfragung wörtlicher Formeln entlarvt sich eine Stereotypie, die, an ein vorläufiges Ende gedacht, einfach nur komisch ist – auch wenn die arme Alice, die sich schließlich aus der irren Gesellschaft heraus stiehlt (komisches Wort…), mehr als einmal darum bemüht ist, so höflich zu bleiben wie Carrolls Alice.
Stimmen die Figuren einen Song an, geht‘s so präzis um Alice wie um uns. Singt „der Hase“ von der leeren Mon Chéri-Packung und stimmt das Ensemble „Kein Platz“ an, müssen wir nicht an Forrest Gump denken, um gelegentliche Ähnlichkeiten des Kunst-Theaters mit der Wirklichkeit zu bemerken. Wird einmal nicht musiziert, gehorchen die blitzschnellen Dia-, Tria-, Quarto- etc.-loge einem quasi musikalischen drive. Bisweilen pocht ein Grundrhythmus von vier Schlägen eines Viervierteltakts durch den Bühnenraum; die Zeit verläuft nicht allein für den „Hasen“ (neben der Herzkönigin die einzige Figur, die persönliche Merkmale aufweist) erbarmungslos – aber „verläuft“ sie wirklich? Die „Spielregeln“ dieses Abends wurden zu gleichen Teilen von der Autorin/Regisseurin Johanna Wehner, aber auch von den Musikern (Vera Mohrs schrieb die Musik und die Texte, Rapoport allein manch Musik, manchmal mit Mohrs zusammen) aufgestellt. Die Frage, wo der Ausgang ist und wo‘s lang geht, erscheint am Ende unwichtiger als das Wissen, dass das bisweilen wahnsinnig machende Auslegen zwar nicht zielführend, aber an sich sehr komisch – und diskutabel ist.
Lewis Carroll hat es gewusst: Es gibt Rätselfragen, die man nur dann lösen kann, wenn man begriffen hat, dass man sie nicht beantworten kann. So etwas nennt sich: Kommunikation. Wenn Llewellyn Reichman als Alice per se, als Alice von heute auf der Bühne steht und ihre Mit- und Gegenstreiter Annette Büschenberger, Karoline Reinke (die „Hexe“ am Akkordeon und der tremolierenden Geige, die auch einen grandiosen Song hat), Nicolas Frederik Djuren, Sascha Tuxhorn, Justus Pfankuch und Janning Kahnert sich in ein wortreiches Gefecht begeben, ist‘s wesentlich alicehafter und musikalisch stimmiger als manch „werktreue“ Neufassung in Form z.B. eines Balletts. Die Schulplatzmiete, die am Abend die Kammerspiele besuchte – also mehrheitlich junge Leute in der generationsmäßigen Richtung der Alice –, war jedenfalls sehr angetan vom hochvirtuosen und -musikalischen Schauspiel. Herzkönigin, was willst du mehr?
Frank Piontek 8. März 2023
Alice im Wunderland
Vera Mohrs, Kostia Rapoport, Johanna Wehner
Staatstheater Nürnberg
Besuchte Premiere am 3. Dezember 2022
Inszenierung: Ensemble mit Johanna Wehner. Janning Kahnert, Paula Pohlus
Bühnenbild: Benjamin Schönecker
Musikalische Leitung: Vera Mohrs, Kostia Rapoport
Ensemble des Staatstheaters Nürnberg