Nürnberg: „Malina“, Ingeborg Bachmann

Der Roman spielt auch in der Oper. Kein Wunder: Die Autorin hatte eine tiefe Beziehung zur Gattung, verehrte die Callas (der sie einen Text widmete) und schrieb ihrem Freund Hans Werner Henze mit dem Jungen Lord ein Libretto, das der dann erfolgreich vertonte. Die Oper: Das war auch für Ingeborg Bachmann ein Medium, mit dem sich die tiefe Beziehung zwischen Liebe und Tod in eine andere Form von Sprache bringen ließ. Und also zitierte sie, neben diversen italienischen Vortragsbezeichnungen, in Malina auch jene Worte, die jeder Wagner-Freund kennt: „So stürben wir…“ Und ein paar Zeilen später: „Tot denn alles…“ Der Tristan-Kenner hört sofort die Musik. Dass die Produktion an Wagners Todestag, einem 13. Februar, uraufgeführt wurde, ist vermutlich purer Zufall…

© Konrad Fernsterer

In Nürnberg hören wir Musik, auch die Worte, aber es sind nicht die Zauberklänge aus Wagners „Handlung“, die unsere Ohren umschmeicheln. Der Sound wird an diesem Abend von Iona W. gefahren; sie sitzt 90 Minuten lang auf der von den Tribünen zweiseitig umrahmten Bühne des XRT in der 3. Etage des Staatstheaters Nürnberg, während Karoline Reinke ihr Solo auf Texte aus Ingeborg Bachmanns Malina und auf Hinzukomponiertes performt. Der Klang ist nicht alles, aber viel; kaum eine Sekunde, die nicht vom Säuseln und Klopfen, von sensitiven Liegetönen und melodischen Einsprengseln akzentuiert und mitgestaltet wird. Der Abend ist überhaupt sehr vielstimmig: so wie Bachmanns genialer Roman über eine „toxische Beziehung“, wie die Dramaturgin Sabrina Bohl vor Beginn des Stücks anmerkt. Bachmann, eine jener Autorinnen der Nachkriegszeit, die kraft ihres Werks geblieben sind, legte vor einem guten halben Jahrhundert einen Roman vor, in dem sie, auf radikal subjektive wie künstlerisch souveräne Art und Weise, ihre Traumata verarbeitete. Viel spielte da hinein: die Begegnung mit den in Österreich einmarschierenden deutschen Truppen, ein offensichtlich als Monstrum empfundener Vater, die Greuel der NS-Zeit – und immer wieder scheiternde Beziehungen zu Männern, denen gegenüber sie sich als Opfer fühlte (dass die Beziehung zu Max Frisch eine liebevolle gewesen sein muss, enthüllte zuletzt der komplett veröffentlichte Briefwechsel mit dem Schweizer Autor). Ivan und Malina, so heissen die beiden Protagonisten von Ingeborg Bachmanns „Ungargassenland“, denen die namenlose Ich-Erzählerin gegenübersteht, die am Ende in der Ritze einer Wand verschwindet. Der berühmte letzte Satz lautet: „Es war Mord“.

Natürlich kann man einen derart komplexen wie facettenreichen Roman, in dem, um nur ein Beispiel zu nennen, eine märchenhaft anmutende Geschichte einer „Prinzessin von Kagran“ eingelegt wurde (Kagran ist ein Wiener Stadtbezirk, keine exotische asiatische Gegend), nur fragmentarisch abbilden. Man muss sich da auf ein Grundthema konzentrieren, denn er ist die auskomponierte Vielstimmigkeit. Die Nürnberger Aufführung, verantwortet vom kainkollektiv (Fabian Lettow und Mirjam Schmuck), realisiert die Polyphonie mit den diversesten technischen Mitteln. Malina wird, mit seinem binauralen Mikrophon, den Kopfhörern der zuschauenden Zuhörer, den hörspielartigen Strukturen der Tonstrecke, den verfremdeten und eingespielten Ton- und Filmstrecken und der Interaktion mit dem Publikum zum multimedialen Spektakel – das zuletzt, das ist die Hauptsache, von der Akteurin zusammengehalten wird. Karoline Reinke „spielt“ nicht die Ich-Erzählerin, sie transportiert die These, indem sie, vom Schlusssatz ausgehend, die ausgesprochen bruchstückhafte Story – zunächst tatsächlich rückwärts laufend – rekonstruktiv von hinten erzählt, sie mit Kommentaren unterbricht, zwei Wissenschaftlerinnen (Migration und Femizid) per Film zuschaltet und das 360-Grad-Mikro umspielt und um flüstert, so dass sich ihre Stimme in unsere Ohren sehr intim einschmeichelt. Sie absolviert die Parforcetour in einem anthrazitgrauen Catsuit, als Raumfahrerin durch die Welt der Unterdrückung der weiblichen Unabhängigkeit.

Denn dies ist die These: „Der Faschismus ist das erste in der Beziehung zwischen Mann und Frau.“ Der Bachmann-O-Ton wird an die Wand projiziert, die Verhältnisse sind klar – zu klar. Denn die Übertragung des Schlusssatzes „Es war Mord“ auf die Femizide der Gegenwart und das Verschwindenlassen von Frauen, wie es von der Migrationsforscherin medial erläutert wird, ist eindeutig zu eindeutig. Die steile These, die ihren Höhepunkt im Fragment gebliebenen wie obsessiven Todesarten-Projekt der Bachmann fand, wird nicht dadurch richtiger, dass auch ihr Gegenteil nicht stimmt. Doch funktioniert der Abend, jenseits allen Thesentheaters, das die denn doch sehr persönliche Geschichte der Ich-Erzählerin und ihres als poetische Metapher offenbleibenden Verschwindens zu einem allgemeingültigen Beispiel männlicher Mordlust erklärt, mit all seinen Elementen, weil die Stimme der Bachmann so stark war und ist, dass ausgerechnet mit Malina kein Beweis nicht bewiesen werden kann, dass weibliche Stimmen (systematisch) unterdrückt werden. Das Gegenteil ist der Fall, auch wenn im Jahr 2025 33 Frauenmorde auf deutschem Boden 33 Frauenmorde zu viel sind und die Aufforderung der Verlesung der 33 Daten und gelegentlichen Namen durch einzelne Zuschauer an Nötigung grenzt. Man kapiert auch so, was heuer wieder geschehen ist.

© Konrad Fernsterer

Doch die Bilder werden bleiben: die Roten Schuhe (bekanntlich die Symbole für die Fülle von Frauenmorden), die Frau im Catsuit, nicht zuletzt die Flucht durch die Gänge des Staatstheaters, auf die leere Bühne des Nürnberger Opernhauses. Der Rest ist Sound: ein sanftes Säuseln, Liegetöne, Live-Songs, eingespielte Songs – und eine Schauspielerin, die die Katastrophengeschichte von 1971 so vielstimmig und so kurzweilig erzählt, als sei sie ganz von Heute.

Frank Piontek, 29. Mai 2025


Malina oder vom Verschwinden (lassen)
Ingeborg Bachmann

Staatstheater Nürnberg, XRT in der 3. Etage

Premiere: 13. Februar 2025

Inszenierung: kainkollektiv
Musikalische Leitung: Iona W.