Von Wieland Wagner ist der Ausspruch überliefert: „Was brauche ich einen Baum auf der Bühne, wenn ich eine Astrid Varnay habe!“ Unter den gegenwärtigen Sängerpersönlichkeiten kann man diesen Satz gut auf den Bariton Johannes Martin Kränzle ummünzen. Seine Bühnenpräsenz, seine Ausstrahlung und sein Einswerden mit der verkörperten Figur sind in jeder Inszenierung immer wieder aufs Neue beeindruckend. Auch allenfalls solide Produktionen wie etwa im vergangenen Jahr David Hermanns Sicht auf Janáčeks Totenhaus an der Oper Frankfurt werden durch Kränzle in den Rang des Außerordentlichen erhoben. Hinzu kommt die technisch perfekte Beherrschung des Stimmmaterials, die es Kränzle erlaubt, mit einer schier unendlichen Fülle von Farbnuancen das Dargestellte musikalisch zu beglaubigen und zu vertiefen. All das ist nun im Wiesbadener Staatstheater in der Wiederaufnahme von Herzog Blaubarts Burg zu erleben.
Szenen einer Ehe: Vesselina Kasarova (Judith) und Johannes Martin Kränzle (Blaubart)
Es wäre aber ungerecht gegenüber der Inszenierung, die Intendant Uwe Eric Laufenberg selbst besorgt hat, wenn man die Produktion auf die herausragende Leistung des Hauptdarstellers reduzieren würde. Laufenberg bereitet vielmehr den Boden für ein eindringliches Kammerspiel, in welchem Vesselina Kasarova als Judit auf Augenhöhe mit Kränzle agiert. Ihr Mezzosopran verfügt über Durchsetzungskraft, eine markante Höhe und ein bemerkenswert dunkel abgetöntes Brustregister.
Die intensiven Darsteller sind in einem zunächst realistisch gezeichneten Beziehungsdrama zu erleben, welches immer deutlicher ins Alptraumhaft-Magische umkippt. Das Bühnenbild von Matthias Schaller und Susanne Füller zeigt ein holzvertäfeltes modernes Apartment. Blaubart und seine neue Braut Judith kommen zu Beginn mit einem Fahrstuhl hier an. Judith erkundet den Raum und dringt dabei immer tiefer in die Psyche des ihr noch fremden neuen Gatten ein. Sehr genau orientiert sich die Inszenierung am Libretto und überträgt die Handlung dezent von einem mythischen Mittelalter in die Jetztzeit. Dabei wird dem Text keine Gewalt angetan. Wie in der Vorlage ist der Raum fensterlos. So wird eine klaustrophobische Wirkung erzielt, die sich noch dadurch steigert, daß die Schließung der Burgtore hier mittels zusammenfahrender Wände gezeigt wird, die den Ausgang verschwinden lassen. Das Öffnen der Türen in der Burg wird als Aufdeckung der schmutzigen Geschäfte des Herrn Blaubart übersetzt. Auf seinem Laptop entdeckt Judith ein Video der Folterkammer, welches zwar den Zuschauern verborgen bleibt, dessen Inhalt man aber an ihrer entsetzten Reaktion ablesen kann. Die Waffenkammer wird von Photographien repräsentiert, welche Judith im Aktenkoffer des Geschäftsmanns findet. So wird ihr klar, daß an den ihr sodann präsentierten Reichtümern, dem Schmuck, den ihr Blaubart anhängt, den Ländereien, die er ihr präsentiert, ja sogar an den Blumen, mit denen er sie überhäuft, im übertragenen Sinne Blut klebt. Auch daß Laufenberg das Drama am Ende mit den Zügen eines Horrorthrillers versieht, läßt sich schlüssig aus dem Originalplot ableiten.
Musikalisch wird das Ganze neben den starken Protagonisten von dem gut aufgelegten Orchester unter der Leitung des jungen Dirigenten Philipp Pointner getragen. Der Klang ist kräftig, dicht und angemessen aufgeraut. Insbesondere die stark geforderten Holzbläser und die Hornisten hinterlassen einen hervorragenden Eindruck. Das Publikum zeigt sich begeistert und feiert Musiker und Produktionsteam in gleicher Weise.
Nach diesem überzeugenden ersten Teil ist man gespannt, was jetzt noch folgen kann. Bei der ersten Präsentation von Blaubarts Burg hatte Laufenberg Bartoks Psychothriller noch Poulencs Voix humaine vorangestellt. Die Inszenierung war ganz auf den Besetzungscoup zugeschnitten, den der inszenierende Intendant mit dem Engagement des Weltstars Julia Migenes hatte landen können. Diese stand nun nicht mehr zur Verfügung. So mußte Ersatz her. Anstatt eine neue Sängerin in die Produktion einzupassen, entschied man sich für einen Austausch des Stückes. Die Wahl fiel auf Kurt Weills Sieben Todsünden. Das läßt sich gut mit der Ähnlichkeit der formalen Anlage beider Stücke begründen. So wie im Blaubart nacheinander sieben Türen geöffnet werden und das Stück damit in klar abgrenzbare Teile gegliedert wird, so handelt auch Weill die Sieben Todsünden in jeweils einer kurzen Szene ab. Es ist durchaus reizvoll, im unmittelbaren Vergleich zu erleben, wie unterschiedlich Bartok und Weill mit dieser formal ähnlichen Anlage umgehen. Nach dem intensiven Expressionismus des ersten Teils wirkt Weills coole Sachlichkeit mit ihrer ironischen Adaption von Unterhaltungsmusik wie ein erfrischendes Dessert nach einem gehaltvollen Hauptgang. Grundlage ist ein Text von Bertold Brecht, in welchem dieser sarkastisch sein antikapitalistisches Grundthema durchspielt. Wie in Der gute Mensch von Sezuan muß sich auch hier die Hauptfigur in zwei Personen aufspalten, um in der Welt des bösen, ausbeuterischen Kapitalismus bestehen zu können. Das Ursprungskonzept sieht vor, daß die Hauptfigur von einer Sängerin als Anna I und einer Tänzerin als Anna II verkörpert wird. In Wiesbaden hat sich Regisseurin Magdalena Weingut dazu entschieden, die gespaltene Persönlichkeit doch mit einer einzigen Darstellerin auf die Bühne zu bringen. Daß dies funktioniert, liegt an Nicola Beller Carbone. Auf sie trifft Wieland Wagners eingangs zitierter Ausspruch noch weitaus stärker zu als auf die Protagonisten des ersten Teils. Trotz der hübsch zynischen Gesangseinlagen eines ihre Familie repräsentierenden Männerquartetts (mit einem Baß als Mutter) erlebt man eine One-Woman-Show.
Multiple Persönlichkeit: Nicola Beller Carbone als Anna
Das Ausstattungsteam muß dazu gar nicht viel mehr bereitstellen, als einige abstrakte Bühnenelemente (wiederum entworfen von Matthias Schaller) und immer neue Kostüme (Katarzyna Szukszta). Den Rest erledigt Beller Carbone. Sie tanzt, chargiert und wirbelt über die Bühne. Bei ihren ersten Gesangstönen ist man überrascht. Zuletzt hatte man sie in Wiesbaden als Färberin in Richard Strauss‘ Frau ohne Schatten erlebt, in einer dem hochdramatischen Fach zugeordneten Partie. Nun erklingt eine helle, zickig-mädchenhafte, geradezu soubrettige Stimme. Dabei scheint es zunächst so, als suche die Sängerin nach der richtigen Klangfarbe und scheue sich davor, mit ihrer kräftigen Opernstimme voll auszusingen. Vielmehr orientiert sie sich an dem Diseusen-Ton großer Rollenvorgängerinnen wie Lotte Lenya oder Gisela May. Das ist dem Stück angemessen und gelingt über weite Teile recht überzeugend. Erstaunlicher Weise ist ihre Textverständlichkeit selbst in Passagen, in denen sie dem Sprechgesang nahe kommt, nicht immer optimal. Solche kleinen Einwände trüben aber kaum den Gesamteindruck einer hinreißenden Bühnenshow, in welcher den darstellerischen und tänzerischen Leistungen ein dem Gesang gleichberechtigter Anteil zukommt. Die Regie versucht erst gar nicht, dem Cabaret-Varieté-Tingeltangel noch Tiefgang beizumischen und beläßt es bei gelegentlichen Projektionen von Ausschnitten aus Brueghels Stichen zu den Sieben Todsünden. Das Orchester zeigt sich wandlungsfähig und präsentiert einen angemessen trocken-knackigen Dreißiger-Jahre-Sound. So rauschen die sieben Szenen unterhaltsam vorüber. Hätte man Die sieben Todsünden als Hauptwerk gegeben, würde man sich wohl noch etwas mehr Schärfe wünschen. Als leichtes Nachspiel nach dem gehaltvollen Hauptwerk im ersten Teil ist diese Art der Präsentation aber durchaus willkommen.
Michael Demel, 9. März 2019
© Bilder: Karl und Monika Forster
Weitere Vorstellungen gibt es am 14., 21. und 31. März.