Auch in diesem Jahr haben wir unsere Kritiker wieder gebeten, eine persönliche Bilanz zur zurückliegenden Saison zu ziehen. Wieder gilt: Ein „Opernhaus des Jahres“ können wir nicht küren. Unsere Kritiker kommen zwar viel herum. Aber den Anspruch, einen repräsentativen Überblick über die Musiktheater im deutschsprachigen Raum zu haben, wird keine Einzelperson erheben können. Die meisten unserer Kritiker haben regionale Schwerpunkte, innerhalb derer sie sich oft sämtliche Produktionen eines Opernhauses ansehen. Daher sind sie in der Lage, eine seriöse, aber natürlich höchst subjektive Saisonbilanz für eine Region oder ein bestimmtes Haus zu ziehen.
Nach dem Staatstheater Hannover blicken wir heute auf das Staatstheater Wiesbaden.

Beste Produktion (Gesamtleistung):
Nein, es spricht nicht gegen die Programmplanung, daß die beste Produktion eine Übernahme ist: Bei Der Barbier von Sevilla fasziniert die Verschmelzung von realen Personen und Klappmaulpuppen, die Regie spielt urkomisch und variantenreich die Möglichkeiten der Rollenverdopplung aus, und die Besetzung läßt sängerisch keine Wünsche offen. Insgesamt ein riesiger Spaß.
Größte Enttäuschung:
Mit einer Piraten-Motto-Party, Stummfilm-Grusel-Elementen und einer sich ständig mit dem Text reibenden Überschreibung der Story läuft der Der fliegende Holländer szenisch auf Grund. Schade um die vorzügliche Besetzung der Hauptpartien.
Größte Überraschung:
Daß ein mit viel gutmeinender Öko-Esoterik begleitetes Projekt wie Die Schöpfung aus der Perspektive eines Komposthaufens weder peinlich noch nervtötend didaktisch geworden ist, hat angenehm überrascht. Musikalisch hat sich das Haus mit ausgezeichneten Solisten, einem mitreißenden Chor und einem hellwach agierenden Orchester dabei von seiner besten Seite gezeigt.
Beste Übernahme:
Man muß das Rad nicht immerzu neu erfinden. Bei der Übernahme des szenischen Genie-Streichs Die Perlenfischer hat man die tragenden Partien der Ursprungsproduktion gleich mit übernommen. Das war eine gute Idee.
Beste Gesangsleistung (Ensemblemitglied):
Es widerspricht dem Sinn dieser Kategorie, aber bei unseren beiden Lieblingsproduktionen Der Barbier von Sevilla und Die Schöpfung haben sämtliche Ensemblemitglieder als Ganzes derart überzeugt, daß man niemanden besonders herausstellen möchte, nicht den saftigen Bariton von Jack Lee als Figaro, nicht die Belcanto-Künste von Joshua Sanders als Almaviva und Camille Shermann als Rosina, nicht den bewährten Young Doo Park mit seinem profunden Baß als Bartolo, nicht den kernigen Baßbariton von Hovhannes Karapetyan, der zugleich ein vorzüglicher Erzengel Raphael in der Schöpfung war, auch nicht den strahlenden lyrischen Tenor von Katleho Mokhoabane als Erzengel Uriel oder den klaren Sopran von Galina Benevich als Erzengel Gabriel.
Beste Gesangsleistung (Gastsänger):
Tommi Hakala als Holländer, dessen kerniger Heldenbariton mühelos eine ungefährdete Höhenlage mit satter Tiefe verbunden hat;
Dorothea Herbert, die sich als Senta mit jugendlicher Frische und großem Differenzierungsvermögen präsentiert hat.
Bestes Dirigat:
Der neue GMD Leo McFall hat die Saison mit einem orchestral fulminantem Le Grand Macabre eröffnet und mit einer mitreißenden Schöpfung beendet.
Beste Regie:
Philomena Grütter hat die Regie von Nikolaus Habjan für Der Barbier von Sevilla so aufpoliert, daß sie mit der Frische einer Neuproduktion herauskam.
Bestes Bühnenbild:
Das Kollektiv FC Bergman für Die Perlenfischer.
Beste Chorleistung:
Die aus dem Bachchor Wiesbaden, der Kinder- und Jugendkantorei der Evangelischen Singakademie sowie dem Extrachor des Staatstheaters zusammengesetzte Sängergemeinschaft hat Haydns Lob- und Preis-Chöre in der Schöpfung mit großer Frische und mitreißender Freude präsentiert.
Größtes Ärgernis:
Nach dem vorzeitigen Ende der Laufenberg-Intendanz und der respektabel bewältigten Übergangszeit präsentiert sich das Haus mit neuem GMD und leistungsstarkem Ensemble musikalisch in ausgezeichneter Verfassung. Daß eine Produktion auch mal szenisch daneben geht (wie Der fliegende Holländer), gehört dazu. Daher gab es im zurückliegenden Jahr keinen berichtenswerten Ärger.
Die Bilanz zog Michael Demel.