Vorstellung am 22.5.19 (Premiere am 16.5.)
Opera seria, die greift hier
Mozarts revolutionäre opera seria wurde an der Scala zum letzten Mal 2009 in einer Wiederaufnahme der Produktion von 2005 gegeben. Im Rahmen der Pflege weniger häufig gespielter Mozartopern (siehe „La finta giardiniera“ im Vorjahr) wurde nun eine Neuinszenierung des Werks angesetzt, mit dessen Uraufführung in München Mozart endgültig in die Riege der auch vom Publikum geschätzten Werke aufgestiegen war. (Für Italien gilt letztere Bemerkung allerdings weniger, denn die Erstaufführung fand ja erst 1968 unter der Leitung von Wolfgang Sawallisch statt).
Am Pult hätte Christoph von Dohnányi stehen sollen, der aber seit seiner schweren Erkrankung im November des Vorjahres, auf Grund derer er nur die Premiere der „Elektra“ dirigieren konnte, nicht dazu in der Lage war. An seine Stelle trat Diego Fasolis, der diesmal dem klassisch besetzten Orchester des Hauses (also ohne Originalinstrumente) vorstand. Das Ergebnis muss schlicht als großartig bezeichnet werden, denn Fasolis brachte einen federnden, vorwärts drängenden Klang zu Gehör, den das Orchester mit merkbarer Überzeugung realisierte. Diese Wiedergabe trug den gewissen Hauch Romantik in sich, der so gut zu diesem Werk passt, das die Brücke zu einem freieren Gefüge schlägt, welches die strengen Gesetze der opera seria hinter sich lässt. Dem von Bruno Casoni einstudierten Chor ist neuerlich überragende Qualität zu bestätigen. Die in diesem Werk so wichtigen Chöre wurden auf höchstem Niveau interpretiert. (Mir ist schon klar, dass ich über den Chor der Scala mehr oder weniger immer in diesen Worten berichte, aber hier folgt wirklich ein Höhepunkt dem anderen).
Überzeugend war die Regie von Matthias Hartmann geraten, woran allerdings die Choreographie von Reginaldo Oliveira großen Anteil hatte. War man bei den die Vorgeschichte der Handlung illustrierenden tänzerischen Einlagen noch skeptisch, so erwiesen sich später die an den Erinnyen inspirierten Körper, die Idomeneo in den Momenten von Zweifel und Depression bedrängten, als jeden Moment überzeugend und auch die Statik der Handlung belebend.
Gar so statisch war diese im Übrigen auch nicht, denn Oliveira verhielt die SängerInnen zu großen Gesten, die aber nichts mit dem zurecht geschmähten Ausbreiten der Arme seitens der Akteure zu tun hatte. Vielmehr zeigten sie die innere Zerrissenheit der Figuren, die Schwierigkeit für sie, Entscheidungen zu treffen, an. Im Gegensatz dazu durften Idamante und Ilia während des Geständnisses ihrer gegenseitigen Liebe ein paar rasante Tanzschritte wagen.
Bedeutend auch der Beitrag des Bühnenbildners Volker Hintermeier, dem mit der zentralen Darstellung eines furchterregenden Stierkopfs und ihn umgebender Totems derselben Art eine großartige Lösung gelungen war, um die bedrückende Atmosphäre auf Kreta zu versinnbildlichen. Die Drehbühne stand im gut genutzten Einsatz, auch bei der Erscheinung des Ungeheuers, das durch das Auge blendende Lichteffekte (Mathias Märker) symbolisiert wurde. Die zeitlosen Kostüme von Malte Lübben, charakteristisch für jede der Figuren, hätten nur bei der Interpretin der Ilia, die sehr viel stattlicher aussah als ihr Idamante, etwas glücklicher sein dürfen.
Von der nachdrücklichen Personenführung profitierten alle Beteiligten, aber natürlich noch mehr jene, die über angeborenes Schauspieltalent verfügen. Dabei muss Bernard Richter aus der Schweiz in der Titelrolle als Erster genannt werden, so sehr vermochte er die Seelennöte, aber auch die egoistischen Anwandlungen des kretischen Königs umzusetzen. Stimmlich verfügte er über einen guten Atem für die langen Phrasen und eine brauchbare Koloratur, aber das Material als solches ist wenig aufregend. In jedem Fall handelt es sich nicht nur um einen Sänger, sondern um einen Künstler. Auf diesem Niveau befand sich auch die Frankokanadierin Michèle Losier, deren Idamante nicht nur in Figur und Gehaben ein perfekter aristokratischer Jüngling war, sondern auch stimmlich alle Nuancen zwischen der Liebe zum Vater und zur Geliebten und der heroischen Entscheidung, sich zu opfern, zum Ausdruck brachte. Ihr Mezzo ist nicht allzu groß, aber mit angenehmem Timbre und technisch gut durchgebildet. Vokal die beste Gestalterin war Federica Lombardi, die der schwierigen Rolle der Elettra scharfes Profil verlieh und mit einem strahlenden Sopran, von dem man sich zum Beispiel eine Chrysothemis wünschen würde, die vertrackte Arie „D’Oreste, d’Aiace“ mit größter Stimmschönheit und technischer Sicherheit absolvierte.
Julia Kleiter (Ilia) ließ wiederholt die Grenzen ihrer technischen Möglichkeiten hören, da mehr als ein Spitzenton steif klang. Ansonsten war ihre Leistung, auch darstellerisch, tadellos. Giorgio Misseri nützte die Tatsache, dass keine der beiden Arien des Arbace Strichen zum Opfer gefallen waren, zu einer Glanzleistung mit perfekten sovracuti, die – neben dem Applaus für Lombardi – die einzige spontane Zustimmung des Abend errangen. Der Oberpriester des Neptun wurde mit Nachdruck von Kresimir Spicer gegeben, und beruhigend klang Emanuele Cordaro als „Voce“ aus der Mittelloge. Zu erwähnen ist noch, dass Dohnányi bei den Vorarbeiten starke Kürzungen der Rezitative veranlasst hatte. Fasolis hätte vielleicht manches lieber doch noch wiedergegeben, fügte sich aber angesichts der Situation, und nicht zum Nachteil der Hörer, denke ich.
Eine erfreuliche, gut gemachte Produktion, bei der sich auch die Pausenflucht von Abonnenten und Touristen in einem erträglichen Rahmen hielt.
Eva Pleus 245.19
Bilder: Brescia e Amisano / Teatro alla Scala