Vorstellung am 29.6.21 (Premiere der Wiederaufnahme am 26.6.)
So gerne hätte ich jubelnd über den ersten Operntitel geschrieben, der nach dem schwächer Werden der Pandemie live vor Publikum (770 Plätze sind zugelassen) über die Mailänder Bühne gehen konnte! Aber ach, es war ein ziemlich lähmender Abend, und die Schuld lag zum Großteil am Dirigenten, denn Daniel Harding sorgte nach einer vielversprechend musizierten Ouvertüre für enervierend langsame Tempi, die zu der Inszenierung von Giorgio Strehler so gar nicht passten. Die 1976 in Versailles aus der Taufe gehobene Produktion stand an der Scala seit 1981 neunmal in verschiedenen Jahren auf dem Programm, vor seinem Abgang aus dem Haus immer von Riccardo Muti geleitet. Sie wurde nun wieder gezeigt, weil man die unglückselige Inszenierung aus 2016 von Frederic Wake-Walker dem Publikum nicht mehr zumuten wollte und es außerdem an die 100. Wiederkehr von Strehlers Geburtstag zu erinnern galt. Allerdings hat natürlich auch diese bedeutende Interpretation des großen Giorgio in 45 Jahren etwas Staub angesetzt, aber das wäre zu akzeptieren gewesen, hätte Harding nicht als Totengräber fungiert.
Dazu muss ich insofern ausholen, als der Dirigent in der Pressekonferenz schon gesagt hatte, dass er die Inszenierung nicht mag, weil sie ihm zu heiter erscheint! Er verwies auf des Grafen Umgang mit den Frauen, dass dieser der 12-jährigen Barbarina ihre Kindheit geraubt hätte, dass ihr „L’ho perduta“ eine einzige Anklage dagegen sei, dass die Gräfin nicht in drei Sekunden dem Grafen vergeben könne und überhaupt nach Anhören dieses Werks eine große Traurigkeit zurückbleibe. In diesem Sinne setzte Harding gegenüber dem tapfer spielenden Orchester des Hauses einer Tragödie würdige Tempi durch anstatt den auch wehmütigen Stellen wie den beiden Arien der Gräfin entsprechendes Gewicht zu geben. Die getragenen Tempi machten es auch der die Wiederaufnahme betreuenden Marina Bianchi schwer, Strehlers Konzept unverfälscht wiederzugeben. Für viele Szenen (genannt sei z.B. jene im 2. Akt, in der Susanna den versteckten Cherubino aus dem Zimmer holt: hier musste gar eine Art schleichender Schritte hinzugefügt werden, um die vom Dirigenten vorgegebenen Tempi „auszufüllen“) wurden Bewegungen erfunden, da sich das flotte Geschehen von Strehlers Sichtweise allzu deutlich mit dem Konzept des musikalischen Leiters schlug.
So kam es, dass von den Protagonisten nur einer sein Potential wirklich ausschöpfen konnte: Luca Micheletti, ein überaus interessanter Newcomer im Operngetriebe. Der Künstler war als Schauspieler und Regisseur unterwegs, als er vor 2-3 Jahren beschloss, seine Gesangsstimme ausbilden zu lassen. Wir hörten einen Bariton mit den dunklen Farben des Basses und vorbildlicher Diktion, dessen Besitzer als Einzigem klar war, wie man Strehlers Sicht auf den „tollen Tag“ umsetzen muss. Eine großartige Leistung, die viel für die Zukunft verspricht. Seine Susanna Rosa Feola war gesanglich überzeugend, auch wenn ihr die Tessitura etwas unbequem tief liegt, aber sie konnte sich nie als der eigentliche Motor der Intrige erweisen. Julia Kleiter war eine stimmlich und szenisch steife Gräfin, die eher hantig als melancholisch wirkte. Simon Keenlyside, der so oft ein überzeugender Graf war, wirkte seltsam gehemmt und unnatürlich; seine große Arie litt auch stimmlich unter dieser Haltung. Der Cherubino der als Mezzosopran bezeichnete Svetlina Stoyanova klang recht sopranlastig, war nett gespielt, zeigte aber einen gewissen Mangel an Persönlichkeit Auch Andrea Concetti (Bartolo) und Anna-Doris Capitelli (Marcellina) hatten keine großen Möglichkeiten zur Profilierung. Caterina Sala (Barbarina) hat sicher das Potential für eine solide Weiterentwicklung, Matteo Falcier (Basilio) und Paolo Nevi (Don Curzio aus der Accademia della Scala) ergänzten so beherzt wie Carlo Cigni als Antonio.
Schade, schade, aber der Herbst gibt Hoffnung.
Eva Pleus 3.7.21
Bilder: Brescia & Amisano / Teatro alla Scala