Einen schönen Liederabend gab es am 8.1., als Markus Werba Schuberts „Winterreise“ interpretierte. Der Künstler hat offenbar einen direkten Zugang zu diesem Meisterwerk, der es ihm ermöglicht, den Liedern eine Spontaneität zu verleihen, als würde ihm Wilhelm Müllers Text als sein eigener in dem Moment einfallen, in dem er mit dem jeweiligen Stück beginnt. Damit gelangen ihm die Lieder, die noch ein wenig Hoffnung beinhalten, ebenso wie die trotzig-aufbegehrenden und die zutiefst resignativen. Das macht es schwierig, einzelne Momente besonders hervorzuheben, passte Werba seinen hellen, beweglichen Bariton doch perfekt an alle Stimmungen an. Um doch noch ein paar Titel zu nennen: Der Lindenbaum hatte so gar nichts vom viel zu oft gehörten Quasi-Volkslied, das trotzige Aufbäumen gegen ein widriges Schicksal in Mut, die bodenlose Verzweiflung im Leiermann. Werbas Begleitung durch Michele Gamba erwies sich als von gutem Niveau, aber für Schubert hätte es persönlichkeitsstärker ausfallen dürfen.
Ein weiterer Liederabend, der zwei große Namen an die Scala brachte, fand am 26.1. statt: Renée Fleming und Evgeny Kissin gaben sich die Ehre. Die amerikanische Sopranistin, seit Jahrzehnten nicht mehr in Mailand aufgetreten, wurde mit großem Applaus empfangen, in den sich bereits „Brava“-Rufe mischten. Sie sang im ersten Teil sieben Schubertlieder (u.a. Suleika, Rastlose Liebe, Im Rhein, im schönen Strome), die unter der Undeutlichkeit litten, mit der die schönen Texte von Goethe und Heine vorgetragen wurden. Nach den ersten vier Liedern spielte Kissin mit delikater Leichtigkeit jeweils ein Stück aus Liszts Années de pèlerinage und aus Quatre valses oubliées.
Nach der Pause waren zwei Lieder von Rachmaninow zu hören. Ich spreche kein Russisch, aber der Klang dieser wunderschönen Sprache ist mir bekannt, und auch hier war es schwierig, zu erraten, um welches Idiom es sich überhaupt handelte. Vom selben Komponisten spielte Kissin nun mit Gelenkigkeit und Ausdruck zwei Stücke aus Morceaux de fantaisie. Besser war Flemings Aussprache bei zwei französischen Liedern von Franz Liszt und weiteren zwei von Henri Duparc. Es kam zu drei Zugaben: Schuberts Ave Maria, Frühlingsgewässer (Rachmaninow) und Morgen von Richard Strauss.
Das Publikum im sehr vollen Haus (was bei Liederabenden selten ist – die Namen der Künstler hatten offenbar Zugkraft) war seltsam, denn nicht nur gab es nach jedem Lied den Versuch, zu klatschen, sondern es wurden auch immer wieder Logentüren zugeknallt. Über mangelnde Zustimmung konnte Fleming, deren Stimme wiederholt zur alten Frische fand, nicht klagen. Für mich war es befriedigender, wenn Kissin die genannten Solostücke spielte.
Eva Pleus, 29. Januar 2023
Teatro alla Scala
8. Januar 2023
Franz Schubert: Winterreise
Marcus Werba / Michele Gamba
26. Januar 2023
Schubert, Rachmaninow, Liszt
Renée Fleming / Evgeny Kissin