Die Auswahl des musikalisch und inhaltlich revolutionären Werks von Dimitri Schostakowitsch (ich verwende die im Deutschen geläufige Schreibweise seines Namens) für die Eröffnung der neuen Scala Saison hatte schon im Vorfeld zu zahlreichen Diskussionen geführt. Es gab Stimmen, die die Entscheidung fuer einen russischen Titel angesichts Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine als unzulässig betrachteten, andere behaupteten, dies sei „kein Werk fuer eine inaugurazione“. Der Erfolg der Produktion gab indessen der – besonders von Musikdirektor Chailly forcierten – Entscheidung recht.

Erstmals zu sehen war die Oper an der Scala 1964 in italienischer Uebersetzung als „Katerina Ismailova“ in der vom Komponisten musikalisch und sprachlich gemilderten Fassung, die er nach Stalins wütendem Angriff in der „Prawda“ erarbeitet hatte, um dem Werk nicht jede Möglichkeit einer Aufführung zu nehmen. (Die russische Premiere erfolgte 1934 im damals Leningrad genannten St. Petersburg, war ein großer Erfolg und eroberte vor besagtem Angriff zwei Jahre lang zahlreiche russische Bühnen). 1992 kam es zu einer originalsprachigen Wiedergabe der ursprünglichen Fassung, und 2007 fand eine Produktion des Londoner Covent Garden den Weg auf die Mailänder Bühne. (1992 wurde das auf den Rängen sitzende Scala Publikum übrigens ins Parkett gebeten, um die vielen freien Sitze etwas aufzufüllen. 2025 konnte ein so trauriges Bild durch viel Aufklärungs- und PR-Arbeit vermieden werden).
Regisseur Vasily Barkhatov und sein Team (Bühnenbild: Zinovy Margolin, Kostueme: Olga Shaishmelashvili, Licht: Alexander Sivaev) verlegten die Handlung um die Frau, die ihren Schwiegervater und dann ihren Mann tötet und schließlich auf dem Weg in die sibirische Verbannung ihre Rivalin Sonetka mit in den selbstgewählten Tod nimmt, vom Land in die Stadt und vom 19. Jahrhundert in eine Großstadt der Dreißigerjahre des 20. Das von Schostakowitsch zusammen mit Alexandr Prejs erstellte Libretto basiert auf einer Erzählung von Nikolai Leskov, in der das bäuerliche Ambiente und Analphabetismus eine wichtige Rolle spielen, und es klingt wenig überzeugend, wenn Katerina 100 Jahre später in der Stadt behauptet, nicht lesen zu können. Aus dem reichen Gutsbesitzer Boris Ismailov wird der Inhaber eines großen Restaurants, aus den Bediensteten die Kochbrigade. Da die Personenführung äußerst präzise und spannend und das Bühnenbild überaus geschickt auf zwei Ebenen aufgeteilt ist, konnte man sich die Verlegung trotz kleinerer Ungereimtheiten gefallen lassen. Als störend empfand ich hingegen, dass die Geschichte in Rückblenden erzählt wird, also Katerina und ihr Geliebter Sergej im Polizeiverhör ihre Taten nachstellen müssen und auch andere Personen in Gesten zu erzählen haben, was sie gesehen hatten. Und noch störender ist, dass diese Szenen während der musikalisch so prachtvollen Zwischenspiele stattfinden und vom Genuss der Musik ablenken. Der Schluss ist zwar spektakulär, aber auch nicht im Sinne eines geradezu unauffälligen Selbstmordes und der weiterziehenden Karawane der Strafgefangenen, sondern Katerina übergießt sich mit Benzin und zündet sich und Sonetka an – aus den zwei Frauen werden lebende Fackeln. Trotz aller Einwände aber eine packende Inszenierung, die vor allem mit psychologischer Feinzeichnung punktet.

In der musikalischen Realisierung war bei jedem Takt zu merken, wie sehr Riccardo Chailly das Werk am Herzen liegt, und das Orchester des Hauses mobilisierte alle Kräfte, um ihm bis zur Erschöpfung zu folgen. Die gesamte Wucht und Kühnheit von Schostakowitschs Komposition kam zur Geltung. (Dass mich Maris Jansons Leitung 2017 in Salzburg noch mehr beeindruckt hat, ist eine rein persönliche Vorliebe). Einmal mehr ist der von Alberto Malazzi einstudierte Chor des Hauses zu preisen, der nicht nur prachtvoll wie mit einer einzigen Stimme sang, sondern szenisch im Gegenteil einzelne Figuren scharf herausarbeitete. Nach der Absage von Asmik Grigorian war die Amerikanerin Sara Jakubiak für die in jedem Sinne mörderische Titelrolle engagiert worden. Ihr Russisch vermag ich nicht zu beurteilen, aber sie ging gesanglich und szenisch ganz in der Partie auf, musste nie ihre Grenzen überschreiten und hielt bewundernswert bis zum Schluss durch. Die große Persönlichkeit ist ihr nicht gegeben (da fällt mir an der Scala Evelyn Herlitzius ein), aber Chapeau vor der Bewältigung der Riesenaufgabe. Sergej war dem Usbeken Najmiddin Mavlyanov anvertraut, dessen Tenor mir weniger kraftvoll erschien als bei seinem Hermann („Pique-Dame“) 2022 am selben Ort. Er zeichnete aber ein überzeugendes Porträt des nur auf seinen eigenen Vorteil bedachten Proletariers. Ganz ausgezeichnet war der Bass Alexander Roslavets als bösartiger, starrköpfiger Schwiegervater Katerinas, und es war bedauerlich, dass seine Figur nur in den ersten beiden Akten vorkommt. Der grelle Tenor von Evgeny Akimov passte bestens zu Katerinas verschüchtertem Gatten, der es nicht wagt, sich gegen seinen Vater aufzulehnen. Ekaterina Sannikova beeindruckte als bedrängte Aksinja, Elena Maximova als aufreizende Sonetka. Aus dem zahlreichen, in jeder Hinsicht präsenten Personal seien noch Alexander Kravets‘ (Tenor)zerlumpter Bauer, der den Leichnam des getöteten Gatten entdeckt, der schoenstimmige Bass Goderdzi Janelidze als alter Häftling, Valery Gilmanov (Bass) als ewig betrunkener Pope und der Bariton Oleg Budaratsky (die karikierte Figur eines Polizeioffiziers)genannt.
Viel Jubel fuer Chailly und Jakubiak und speziell auch für Roslavets.
Eva Pleus, 29. Dezember 2025
Lady Macbeth von Mzensk
Dimitri Schostakowitsch
Teatro alla Scala
Vorstellung am 16. Dezember 2025
Regie: Vasily Barkhato
Musikalische Leitung: Riccardo Chailly
Orchestra del Teatro alla Scala