FESTIVAL DONIZETTI 2019
Teatro Donizetti – Aufführung am 21.11.19 (Premiere am 16.11.)
Szenische Uraufführung
Jahrzehntelang sprachen Donizettiliebhaber immer wieder von einem Werk, das der „Favorite“ desselben Meisters ähnelte, aber mehr oder weniger unauffindbar war. Die Musikwissenschaftlerin Candida Mantica hat in jahrelanger Kleinarbeit die Geschichte des Werks und schließlich das Werk selbst rekonstruiert. Es war nie zu einer Aufführung gekommen, weil das Pariser Théâtre de la Renaissance, für das es bestimmt war, Konkurs anmelden wusste. (Diesem Bankrott fiel übrigens auch die Aufführung von Wagners „Liebesverbot“, das als „La défense d’amour“ angekündigt war, zum Opfer!). Konzertant wurde diese Fassung im Frühjahr dieses Jahres für die Aufnahme durch das Label Opera rara gegeben, während es sich hier um die szenische Uraufführung handelt. Als Donizetti im selben Jahr 1840 von der Opéra den Auftrag für „La Favorite“ bekam, benutzte er einige Themen aus der nie aufgeführten Oper, was vor allem den 3. und 4. Akt betrifft, während die ersten beiden Akte ausgesprochen eigenständig sind.
Auch die Handlung ist relativ ähnlich, aber die Charaktere (die Librettisten waren bei beiden Werken die Herren Alphonse Royer und Gustave Vaëz) sind doch recht unterschiedlich. Die Waise Comtesse Sylvia de Linarés (Leonora in der bekannteren Fassung) wurde von Don Fernand d’Aragon (König Alfons XI. von Kastilien) geradezu verschleppt und auf die Insel Nisida im Golf von Neapel gebracht. Hier wird sie durch ihre liebliche Gestalt und gütige Art vom Volk wie ein Engel verehrt. Vom Hof gemieden und verachtet, lebt sie in Trübsinn, als sie Leone de Casaldi kennenlernt, einen unbedarften jungen Söldner, der auf der Insel Zuflucht sucht, um der Todesstrafe zu entgehen, weil er einen Edelmann im Duell verletzt hat. Der beiderseitigen Liebe auf den ersten Blick folgt der Auftritt des Herrschers, der Leone zunächst verhaften lässt, ihn auf Bitte Sylvias aber begnadigt. Sofort entdecken wir, wie sich die Charaktere im Vergleich zur „Favorite“ unterscheiden: Sylvia ist zerbrechlicher als Leonora (und demnach ein hoher Sopran, kein Mezzo). Die Herren wechseln zwar nicht das Fach, aber der Tenor Leone ist mehr stürmisch denn lyrisch, der Bariton König Fernand besitzergreifend und ziemlich böse. Weiters kommt hinzu, dass das nun als vieraktige Oper bezeichnete Werk ursprünglich eine semi-seria hätte sein sollen (wie es die Regeln für das Théâtre de la Renaissance verlangten), weshalb es einen Bassbuffo namens Don Gaspar gibt, der als erster Berater des Königs viel Verwirrung stiftet. So ist er es, der den Plan entwirft, Sylvia mit Leone nach Neapel zu bringen und dort nur auf dem Papier zu verheiraten, damit der König seine Geliebte weiterhin frequentieren kann. Ab da nimmt die Handlung die bekannten Formen an, mit Papstbulle, Leones Entdeckung der Intrige, seinen Rückzug ins Kloster, wo ihn die sterbende Leonora erreicht. (Das Ende fällt zynisch aus, als der nur als Le Moine (Der Mönch) bezeichnete Prior des Klosters die verkleidete Sylvia als verstorbenen Novizen wegschaffen lässt, um einen Skandal zu vermeiden.
Hochinteressant war die Inszenierung von Francesco Micheli im Teatro Donizetti, das ja noch immer eine Baustelle ist, weil die Renovierung noch nicht abgeschlossen wurde. Gespielt wurde im Parkett, das Publikum saß in den Logen und auf einem Podium hinter dem Orchester. Im ersten Teil sang der ausgezeichnete Coro Donizetti Opera, einstudiert von Fabio Tartari, von der Galerie, von wo aus er auch verschiedene Notenblätter hinunter rieseln ließ, ein schönes Bild für die so lange in den verschiedensten Archiven verschwundenen musikalischen Unterlagen. Da es natürlich kein Bühnenbild geben konnte, begnügte Micheli sich mit ganz wenigen Versatzstücken (Angelo Sala) und setzte ganz auf die schauspielerische Führung der Sänger. Unterstützt von den charakteristischen Kostümen von Margherita Baldoni (sensationell die farbigen Papierbekleidungen für die Höflinge im 3. Akt, die langsam zerrissen wurden und dann die einfachen Tuniken der Mönche zeigten), ergab sich eine Aufführung von größter Dichte und Atmosphäre.
Die Sänger entsprachen sowohl stimmlich wie schauspielerisch ihren Aufgaben. Die 23-jährige, großgewachsene, überschlanke Russin Lidia Friedman wirkte geradezu durchscheinend und entsprach damit vollkommen der zu interpretierenden Rolle. Aufregend war auch ihre stimmliche Leistung, denn wir hörten nicht nur eine technisch sicher geführte, schön timbrierte, sondern auch große Stimme. Hier besteht viel Potential für die Zukunft. Wunderbar auch Florian Sempey als von seiner Liebe besessener König. Sein voller, gut tragender Bariton überzeugte auf der ganzen Linie. Der Tenor Konu Kim sang die extrem hoch liegende Rolle samt ihren sovracuti mit großer Sicherheit, doch hätte ich mir eine etwas interessantere Phrasierung gewünscht. Auch er ist allerdings noch sehr jung, und sein Material ist durchaus vielversprechend. Als Don Gaspar fand Roberto Lorenzi die richtige Mischung zwischen der Schusseligkeit eines Buffos und dem arrogant-zynischen Auftreten des Höflings. Nicht schön, aber doch imposant erklang der Bass von Federico Benetti als Mönch. Das Orchestra Donizetti Opera wurde von Jean-Luc Tingaud zu intensivem Einsatz angehalten, dem vielleicht ein paar Nuancen fehlten.
Jedenfalls eine überaus gelungene Produktion, die bewies, dass man „L’Ange de Nisida“ durchaus als eigenständiges Werk sehen und aufführen kann.