Premiere: 28.10.2018
Begeisterung für Barock
Das Theater Aachen präsentiertaktuell ein Frühwerk Georg Friedrich Händels, dass in seiner unkonventionellen Lesart und musikalisch exzellent umgesetzt bei seiner Premiere für wahre Begeisterung beim Publikum sorgte – und das zurecht!
Bereits 1707 entstand das Werk des Komponisten und gilt als sein erstes Oratorium. Gerade 22jährig hatte er von Kardinal Pietro Ottoboni den Kompositionsauftrag erhalten. Händel war gerade in Rom angekommen und stellte hier direkt sein kompositorisches Können eindrucksvoll unter Beweis. Besondere Berühmtheit sollte eine Arie später mit dem Text „Lascia ch’io piango“ in der Oper Rinaldo erhalten – zu hören ist sie aber bereits hier.
Ins Deutsch übersetzt lässt der Titel „Der Triumph der Zeit und der Ernüchterung“ schon ahnen, dass wir es hier weder mit einer Oper im eigentlichen Sinne zu tun haben und selbst mit der Gattung des Oratoriums lässt sich das Werk nicht einwandfrei identifizieren. Es geht um ein Spiel der allegorischen Figuren Schönheit, Vergnügen, Zeit und Ernüchterung, die sich mit grundlegenden Fragen des Lebens, wie etwa der Vergänglichkeit befassen. Sie streiten und wetteifern, wer nun mehr Macht habe.
Regisseur Ludger Engels schafft hier eine perfekte Verbindung ins Heute und Jetzt und zeigt in einer von Bühnenbildner Ric Schachtebeck zweckdienlich eingerichteten Landschaft von Laufstegen, die bis ins Parkett des Saals reichen und so die Protagonisten hautnah erleben lassen, vier junge Menschen, die mit dem Smartphone in der Hand ihre Accounts bei Instagram und Co wie wild füttern. Immer bedacht besser auszusehen, schöner zu sein in einem stetigen, multimedialen Wettkampf. Interessant die Parallele, die der Regisseur in einem im Programmheft abgedruckten Interview zur Weltanschauung des Barock zieht: Auch der Barock habe „die Äußerlichkeit, die Verkleidung“ gefeiert und in der Tat geht diese Überlegung absolut auf. Auf großen Leinwänden folgt das Publikum – das teilweise auch auf der Bühne Platz nimmt – dem Treiben der vier Sänger in der virtuellen Welt. Grelle Farbakzente setzen die Kostüme des erst 24jährigen Raphael Jacobs, die in ihrer stoffgewordenen Extrovertiertheit überzeugen.
Dass dieser Abend so mitreißend ist, liegt zum einen an den von Engels gezeichneten Personen: Diese begeistern mit einer so unglaublichen Natürlichkeit und Spielfreude, dass man fast vergessen mag, dass man sich hier in einer Barockoper befindet. Das Theater Aachen bietet aber auch eine brillante Sängerriege auf, die – allesamt sind sie noch ausgesprochen jung – hochemotional spielt und vortrefflich musiziert. Suzanne Jerosme als die Schönheit, Fanny Lustaud als Vergnügen, Patricio Arroyo als Zeit (alle drei sind Aachener Ensemble-Mitglieder) und Countertenor Cameron Shabazi als Ernüchterung musizieren die Musik Händels mit Klangschönheit und größter Präzision. Dabei erobert gerade Shabazi die Herzen des Publikums und beeindruckt zutiefst mit einer Stimme, die so unglaublich fein nuanciert ist und im forte, wie im piano gleichermaßen anrührt.
Das Aachener Symphonieorchester musiziert in kleiner Besetzung auf der Bühne sitzend auf historischen Instrumenten und präsentiert unter Leitung von Justus Thorau einen Händel voll überbordendem Esprit. Keine Phrase wird langweilig, alles wird mit größtem Feuer musiziert, sowohl die beseelten, sehr kammermusikalischen Episoden, wie auch die großen Koloraturarien des Werks. Dass – und dies ist der Tücke der historischen Instrumente geschuldet – hier und da in den Oboen mal ein Ton nicht ganz so sauber klingt tut dem Gesamteindruck aber keinerlei Abbruch.
Das Theater Aachen hat mit diesem Händel einen Abend geschaffen, der wirklich sehenswert ist. Phrenetischer Beifall und Jubel beenden eine zweieinhalbstündige Vorstellung, die Dank des ungewohnten Arrangements von Bühne, Orchester und Zuschauern, sowie einer absolut schlüssigen Regie und einem phänomenalen Ensemble so unmittelbar und berührend ist, wie man es selten erlebt.
Die Fotos stammen von © Will van Iersel
Sebastian Jacobs 31.10.2018