Premiere: 12.11.17
„Die Dosis macht das Gift“ oder „Früher war mehr Lametta“
Verstörende „Katja Kabanowa“ in Aachen
Lieber Opernfreund-Freund,
gestern hatte am Theater Aachen Leos Janáčeks „Katja Kabanowa“ Premiere, eine im Vergleich zu seiner „Jenůfa“ recht selten gespielte Oper. Erst 13 Jahre nach seinem Erfolg mit der Geschichte um die Küsterin und ihre Ziehtochter Jenůfa wagte sich der tschechische Komponist wieder an die Vertonung eines großen musikalischen Dramas. Inspiriert dazu hatte ihn seine Freundin Kamila Stösslová. In ihr sah er starke Parallelen zur Figur der Katharina, genannt Katja, aus der literarischen Vorlage „Das Gewitter“ von Alexander Ostrowski. Ihr widmete er die Komposition und unzählige Briefe geben Auskunft darüber, wie sehr die 37 Jahre jüngere Frau Einfluss auf die Arbeit Janáčeks nahm, nicht direkt – sie war gänzlich unmusikalisch und blieb auch der Uraufführung des Werkes 1921 fern, da ihrer Ansicht nach Janáčeks Musik nur „die Nerven spannt, aber nicht das Herz“ – sondern eher dadurch, dass sie durch ihren Briefwechsel mit dem alternden Komponisten dessen Kreativität neu entfachte. Trotz der wachsenden Gefühle Janáčeks blieb die Beziehung aber platonisch, Kamila fühlte sich durch seine Zuneigung zwar geschmeichelt, blieb aber ihrem Ehemann, einem Antiquitätenhändler, treu.
Ganz anders hält es Katja Kabanowa, die in der Geschichte in einer unglücklichen Ehe mit Tichon gefangen ist, der von seiner herrischen Mutter Marfa unterdrückt wird, die auch ihrer Pflegetochter Varvara sowie der armen Katja das Leben zur Hölle macht. Katja ist heimlich in Boris verliebt, ihr Gewissen und gesellschaftliche Zwänge verbieten ihr aber, sich dazu zu bekennen. Als Tichon von seiner Mutter auf eine Reise geschickt wird, arrangiert Varvara eine Zusammenkunft von Katja und Boris, der Katjas Gefühle seit langem erwidert, und die beiden finden zueinander. Nach Tichons Rückkehr gesteht Katja ihren Fehltritt, wird wahnsinnig und sieht aus ihrem inneren Konflikt nur einen Ausweg. Sie ertränkt sich in der Wolga.
Der gebürtige Tscheche Tibor Torell arbeitet nach seiner Tätigkeit als Regieassistent am Theater Aachen seit 2011 in gleicher Funktion an der Rheinoper, wo er in der Spielzeit 2015/16 Elliott Carters „What next?“ in der Reihe „Young Directors“ durchaus überzeugend auf die Bühne brachte. Jetzt also große Oper aus seinem Heimatland. Für seine Deutung wählt er eine Rückblende, die Handlung spielt sich in Katjas Kopf in Form einer Erinnerung ab. An sich kein schlechter Ansatz, umgeht man doch so unter anderem die oft unfreiwillig komisch wirkenden Gang Katjas in die Fluten. Und weil in so einer Gedankenwelt auch schon einmal Unlogisches passiert, gelingen Torell durchaus starke Bilder für Katjas inneres Dilemma: auf der unwirklich wirkenden Bühne von Piero Vincisuerra prasselt unaufhörlich Regen gegen eine Panoramascheibe – (un)logischerweise bis auf die Gewitterszene, in einen überdimensionalen Laufstall zwingt Marfa all die, die sie unterdrückt, eine Unzahl geclonter Katja-Bräute wirkt bedrohlich und vor allem das raffinierte Licht von Dirk Sarach-Craig setzt den Focus immer wieder anders. Doch gerade dieses All-Mögliche ist auch die Crux der Inszenierung, da und dort überdosiert Torell und schießt übers Ziel hinaus: Die harte Marfa ist offensichtlich doch eine lustvolle Frau, wie Chiffonleibchen und halterlose Strümpfe unter dem kittelschürzenartigen Gewand (gelungene Kostüme: Isabelle Kaiser) erzählen; damit es auch richtig surreal wirkt, wird die Dienerin Glascha samt stummem Zwilling in an Star Wars erinnernde futuristische Anzüge gesteckt; alles gipfelt in einem völlig sinnfreien Weihnachtsbaumschmücken von Boris und Katja während ihrer letzten Begegnung. Wollte der Regisseur zeigen, dass im Kopf einer Frau, die langsam dem Wahn verfällt, nichts Nachvollziehbares passiert, so ist ihm das dann doch wieder gelungen. Ob die Tatsache aber, dass Dikoj im Gespräch mit Marfa nur onaniert und nicht als Transe auftritt, wie ein Foto im Programmheft noch zeigt, eine Ver- oder Entschärfung darstellt, kann ich nicht abschließend beurteilen.
An der klanglichen Seite des Abends lässt sich hingegen nichts beklagen – außer vielleicht der Überdosis an vom Band eingespieltem Gewittergetöse. Justus Thorau legt die vielschichtige Partitur gekonnt frei, zeigt Zartes an der Grenze zu Zerbrechlichem und mitreißend ansteigende Ausbrüche bis hin zur beinahe orgiastischen Entladung in Janáčekas Skript. Pawel Lawreszuk formt den herrischen Dikoj mit eindrucksvollem Bariton, Viola Zimmermann zeigt als Varvara ihren gefühlsgeladenen Mezzo und Katja Starkes Marfa ist schlicht eine Wucht in stimmlichem Ausdruck und intensivem Spiel. Die drei Tenöre des Abends stehen einander in nichts nach: Patricio Arroyo gibt den Wanja facettenreich und klar, Johan Weigel ist ein überzeugende Tichon und Alexey Kosarev zeigt den Boris trotz kleiner Wackler als leidenschaftlichen Liebhaber. Irina Popova brilliert als Katja, ist nach dem Regieansatz permanent auf der Bühne und spielt ihr enormes Potenzial als intensive Sängerdarstellerin voll aus. Beeindruckend!
Die nur gut 90 Minuten Musik werden ohne Pause durchgespielt – ein Glück für die Entwicklung des Dramas, das sich so voll entfalten kann. Begeisterter Applaus des voll besetzten Theaters belohnt alle Mitwirkenden. Vielleicht hat da aber auch der eine oder andere einen erst auf den zweiten Blick einleuchtenden Grund, wie ich im Hinausgehen höre: „Erst zehn vor acht und schon rum? Dann schaffen wir’s ja noch zum Tatort…“
Spannend fand ich es schon im Opernhaus – also nichts wie hin, lieber Opernfreund-Freund!
Ihr Jochen Rüth 13.11.17
Die Fotos stammen von Carl Brunn.