Lieber Opernfreund-Freund,
unter Giuseppe Verdis 28 Opern gehört Stiffelio sicher zu den unbekannteren. Das von der Zensur arg gebeutelte Werk ist derzeit in der erst in den 1990er Jahren wiederhergestellten ursprünglichen Fassung am Theater Aachen zu erleben. Dabei trifft sängerischer Glanz auf die kluge Inszenierung von Ewa Teilmans.
Dass das Werk kaum einer kennt, mag auch an seiner für Verdi ungewöhnlichen Story liegen. Die kruden Einzelheiten möchte ich Ihnen ersparen und den Inhalt nur kurz umreißen: der evangelische Priester Stiffelio muss nach seiner Rückkehr von einer Reise erkennen, dass seine Frau Lina ihn mit seinem Freund Raffaele betrogen hat. Er macht den Weg für die beiden frei, auch wenn Lina Stiffelio immer noch liebt und nur aus Einsamkeit in die Arme Raffaeles geflüchtet war. Doch seine Vergebung kommt zu spät: Linas Vater Stankar hat da den Verführer seiner Tochter bereits getötet. Als Lina ein halbes Jahr später unvermittelt bei einem Gottesdienst wieder in der Gemeinde auftaucht, vergibt Stiffelio auch ihr.
Verdi erfindet zu dieser Geschichte wunderbare Melodien, die in ihrer Eingängigkeit aber kaum an die Ohrwürmer späterer Werke wie den Rigoletto heranreichen, der nur wenige Monate nach dem Stiffelio entstand. Die mit gut 10 Minuten recht lange Ouvertüre nutzt Ewa Teilmans, um den Ehebruch der vernachlässigten Priestergattin mit Champagner und Badewanne zu visualisieren, ehe die Handlung im grauen Einheitsbühnenraum von Andreas Becker in Gang kommt. So hart wie die Gefühlswelt der Titelfigur sind die Betonwände, seitlich angebrachte Glaskästen lassen dabei die Geschichte vor den Augen aller stattfinden; Stiffelio bleibt kein Moment des Privaten – er ist als Prediger zum religiösen Kultobjekt geworden. Diese szenische Kälte bricht Teilmans immer wieder auf, wenn sie knallbunte Elemente in ihre Inszenierung einbindet, so als bräche das echte Leben sich Bahn in das Korsett von Stiffelio. Beispielsweise erscheinen im Hintergrund immer wieder Szenen wie surrealistische Heiligenbilder, teils mit Bibelsprüchen versehen, teils an ein Foto aus der Serie Les Saints des französischen Künstlerpaares Pierre et Gilles erinnernd; dann wieder gleicht das Grab der Mutter einem gelben Blütenmeer. Teilmans zeigt so gekonnt den Zwiespalt, in dem sich der Prediger mit der Privatperson befindet – nur an einer Stelle reagiert er als betrogener Ehemann auf die Affäre seiner Frau, bleibt ansonsten allenfalls moralisch Mahnender und ist in seiner Predigerrolle gefangen.
Diese Ambivalenz verkörpert das aus Korea stammende Ensemblemitglied Soon-Wook Ka in idealer Weiser, spickt den gestrigen Abend mit zahllosen strahlend-hohen Spitzentönen. Larisa Akbari ist eine Lina mit schlankem Sopran voll zarter Höhenpiani und bietet ihrem Gatten dennoch auch vokal Paroli, der Raffaele des Chinesen Yu Shao ist schlichtweg eine Wucht, weich und bewegend in der Mittellage und von unwiderstehlichem Glanz im oberen Register. Der strippenziehende Vater Stankar wird von Benjamin Bevan mit einer Mischung aus kühler Strenge und zu Herzen gehender Verzweiflung verkörpert, während der wuchtige Bass von Ivo Stanchev die kurzen Auftritte des alten Geistlichen Jorg zum Erlebnis macht.
Der blendend disponierte Chor meistert unter Leitung von Jori Klomp die ausufernde Chorpartie während der 1. Kapellmeister Chanmin Chung puren Verdi aus dem Graben erklingen lässt, die unbekannte Partitur voller zahlreicher Nuancen präsentiert und so einen musikalischen Rahmen wie aus einem Guss schafft.
Bis Mitte März haben Sie noch Gelegenheit, diese Verdi-Rarität in Aachen zu sehen. Also: nix wie hin!
Jochen Rüth, 20. Januar 2023
„Stiffelio„
Giuseppe Verdi
Theater Aachen
Premiere: 11. Dezember 2022
besuchte Vorstellung: 19. Januar 2023
Inszenierung: Ewa Teilmans
Bühne und Kostüme: Andreas Becker
Licht: Dirk Sarach-Craig
Choreinstudierung: Jori Klomp
Musikalische Leitung: Chanmin Chung
Sinfonieorchester Aachen
Weitere Vorstellungen: 29. Januar, 15. und 25. Februar, 12. und 16. März
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