Premiere am 23. Oktober 2021
Theatralisch über ein an sich interessantes Ziel hinausgeschossen
Das Staatstheater Augsburg spielt seit Jahren in seinem Ausweichquartier Martinipark – ein recht schlichter Theaterraum mit guter Akustik und relativ großer Bühne – im Schatten der legendären Renovierungsverzögerungen großer Häuser wie der Staatsoper Berlin, mittlerweile ja fertig, und der Oper Köln, wo manche kaum noch an eine Fertigstellung glauben. So bekommt nicht jeder in der Opernszene mit, dass sich auch die Renovierung der schönen alten Oper Augsburg mittlerweile über alle Gebühr verzögert. Man denkt nun an 2025/26…
Natürlich sind in einem solchen Provisorium nicht alle szenischen Dimensionen einer „normalen“ Opernaufführung möglich. So war es ein prinzipiell verständlicher Griff der Intendanz, den jungen polnischen Schauspielregisseur Wojtek Klemm für die Regie zu engagieren, der auch noch nie Oper inszeniert hatte. Mit Patrice Chéreau und seinem Bayreuther „Jahrhundert-Ring“ 1976 gibt es ja das wohl prominenteste Beispiel, dass so etwas durchaus gut gehen kann. Nun ist Mozarts Werk „La clemenza di Tito“, parallel zur „Zauberflöte“ anlässlich der Krönung Leopolds II. mit dem Libretto von Caterino Mazzolà nach Pietro Metastasio geschrieben, nicht gerade das beste Beispiel für Operndramatik, sodass ein unbefangener Schauspielregisseur im Opernstoff natürlich nach Anhaltspunkten sucht, das Ganze etwas aufregender und vielleicht auch anspruchsvoller zu machen.
Dabei leistete ihm die Dramaturgin Vera Gertz offenbar signifikante Helfe. Im schlichten, aber inhaltsvollen Programmheft, (in dem nach Gender-Überfluss in jenem zu „Orpheus und Euridice“ im Oktober 2020 nur noch einmal ein – ebenfalls nicht zielführendes und ebenso unangebrachtes – „Mitarbeiter:innen“ erscheint), werden mit Zitaten von Elias Canetti zu „Masse und Macht“ (1960), Niccolò Machiavelli zu „Der Fürst“ (1513) und Cesare Beccaria zu „Über Verbrechen und Strafen“ (1766) am Wert der Güte des Herrschers dezidierte Zweifel geäußert, also der Clemenza, wie sie in der Geschichte und in Metastasios und Mozarts Werk verherrlicht wird. Bei Canetti vergeben Machthaber nur zum Schein, nie wirklich. De facto sinnen Herrscher nach Unterwerfung alles dessen, was ihnen entgegensteht. Machiavelli sagt zwar, dass der Fürst danach trachten solle, für barmherzig zu gelten und nicht für grausam. Er solle aber die Nachrede der Grausamkeit nicht scheuen, um seine Untertanen in Treue und Einigkeit zu erhalten und nicht durch übertriebene Nachsicht Unordnung eintreten zu lassen. Beccaria wiederum warnt bei einer vollkommenen Gesetzgebung mit milden Strafen und geregelten Gerichtsverfahren vor diskretionären Begnadigungen durch den Fürsten als Akte unaufgeklärten Wohltuns durch einen öffentlichen Erlass der Straflosigkeit.
Vor diesem Hintergrund muss mal wohl die Augsburger Inszenierung durch Wojtek Klemm sehen, für deren volles Verständnis man eben wieder einmal das Programmheft benötigt. Sonst würde man selbst bei gediegener Werkkenntnis einige Regieeinfälle nicht verstehen, wie beispielsweise die Erschießung Titos und Vitellias durch Annio am Schluss, als bekanntlich alle der Güte des Herrschers ultimativ huldigen und ihm ein langes Leben wünschen, sowie einiges mehr. Das gradlinige Bühnenbild von Magdalena Gut, eine bühnenbreite graue Wand mit mehreren Türöffnungen, die durch Lichtstreifen abgesetzt sind, verrichtet durchaus praktische Dienste bei Auf- und Abtritten der Protagonisten und des Chores. Von Rom oder auch nur dezenten Andeutungen der Ewigen Stadt natürlich keine Spur! Die dezente Lichtregie von Marco Vitale passt zu dieser szenischen Nüchternheit. Eine fast ständig vorhandene Schaukel dient, nicht ganz schlüssig, dem Hervorheben einiger der darauf Platz nehmenden Protagonisten. Sollte sie etwa das Schaukeln ihrer jeweiligen Schicksale symbolisieren?! Es wäre wohl eine etwas zu profane Möglichkeit.
Was aber einer stringenten Dramaturgie im Hinblick auf eine solchermaßen kritischere Betrachtung der Figur Tito Vespasiano und ihrer – behauptet – nur vermeintlichen Güte vor allem entgegensteht, ist eine Banalisierung der Optik und Szene insbesondere durch endlose Videosequenzen (Natan Berkowicz) auf der breiten Bühnenwand, die in der Regel nur wenig mit der zu sehenden Handlung zu tun haben, aber ständig für Bewegung sorgen. Auch dann, wenn man gern einmal die Aktion auf die wirklich sehr gut spielenden Protagonisten konzentriert erleben würde. Besonders heftig geht es damit ausgerechnet zu Mozarts wundervoller Ouvertüre los, bei der man eine Gartengesellschaft bei Tito erleben muss, die sich genüsslich einer Spaghetti Bolognese-Mampferei hingibt. Denn anders kann man die das Ganze auf die Spitze treibenden Versuche, sich die Pasta gegenseitig in den Mund zu schieben, wohl kaum charakterisieren. Kann denn eine Ouvertüre nicht endlich mal wieder unbespielt erklingen, einfach um dem Zuhörer die Chance zu geben, wie übrigens vom Komponisten auch gewollt, langsam in die Atmosphäre der Oper einzutauchen, bevor die Handlung beginnt? Leider reißt diese Sitte immer mehr ein, als könnten die Regisseure ihre Botschaften nicht in der normalen Spielzeit loswerden.
Wenig erfreulich geht es gleich weiter, als Sesto sich bis auf die Unterwäsche, ein mittlerweile immer beliebter werdendes postmodernes Stereotyp, auszieht und Vitellia und Annio sich einen Spaß daraus machen, ihm die Sachen Stück für Stück nur nach langem und albernem Hin und Her wiederzugeben. Auch hier geht die inhaltliche Bedeutung des wichtigen Zwiegesprächs, in dem immerhin ein Mord an Tito verhandelt wird, weitgehend verloren, zu Gunsten einer oberflächlichen und sinnentleerten Visualität. Der Herrscher selbst kommt dann zeitgeistgemäß mit weißen Turnschuhen (zeitgenössische Kostüme Julia Kornacka) herein, während Annio das ganze Stück über eine Zigarette rauchen muss – warum nur?! Später wird zum Ausdruck der Begeisterung Tito vom optisch gleichgeschalteten Chor mit allerhand Stofftierchen und anderem bunten Zeugs aus der Kinderstube beworfen. Es muss dann von vier Polizisten mit den Körpern vorher festgenommener Freiheitskämpfer wieder mühsam zur Seite gewischt werden, um die Spielfläche ohne Putzfrau zu reinigen – die allerdings in solchen Inszenierungen gern bemüht wird. Es ließe sich noch einiges mehr an zweifelhaften Regieeinfällen nennen, wie eine offenbar homoerotische Annäherung Titos an Publio und sein kurzer Pirouetten-Tanz gegen Ende. Vor dem Hintergrund des Anspruchs, die vermeintliche Güte des Herrschers und damit seine Person und Regierungsführung ganz anders als „normal“ in einem anderen Lichte zu zeigen, sind sie nicht zielführend, ja bisweilen verwirrend oder gar irritierend. Hier sind offenbar die Phantasien des Schauspiel-Regisseurs über das Ziel hinausgeschossen und ließen einen an sich interessanten und anspruchsvollen Interpretationsgedanken dieser Mozart-Oper in der Vordergründigkeit verpuffen. Weniger wäre wieder einmal mehr gewesen.
Allerdings sorgte die musikalische Seite dafür, dass es dann doch nicht ganz dazu kam und die Aufführung eine Reihe starker Momente hatte, die von den guten Sängern und dem Orchester vermittelt wurden. Natalya Boeva, die den 67. Internationalen Gesangswettbewerb der ARD München 2018 gewann, ist ein nahezu idealer Sesto mit ihrem ebenso kraftvollen wie klangschönen und ausdrucksstarken Mezzo. Hinzu kommt eine intensive Durchdringung der Rolle mit stets guter situationsbezogener Mimik. Sie ist wohl eines der besten Pferde im Sängerstall des Staatstheaters Augsburg! Sally du Randt, die ich vor vielen Jahre hier als sehr einnehmende Salome und später als ebenso gute „Tannhäuser“-Elisabeth erlebte, ist vokal mit der schwierigen Rolle der Vitellia nicht ganz zu Hause. Die Stimme weist einige Unsauberkeiten auf und zeigt Brüche ins tiefe Register. Darstellerisch ist sie ein gutes Bühnentalent und bildet mit Boeva ein spannendes Duo. Ekaterina Aleksandrova a.G. besticht ebenfalls durch einen klangschönen Mezzo in der Hosenrolle des Annio, behält dramaturgisch stets die Fäden in der Hand und ist ein weiteres sängerisches Highlight des Abends. Mirko Roschkowski a.G. konnte mich in der Titelrolle nicht ganz überzeugen. Sein durchaus schöner Mozart-Tenor lässt es doch in einigen relevanten Momenten noch an Intensität und dramatischem Ausdruck missen. Von der Regie nicht zu allzu gut behandelt zeigt er doch darstellerisches Talent. Jihyun Cecilia Lee, die 2020 hier eine sehr gute Euridice sang, kann auch an diesem Abend mit ihrem perfekt geführten und zur Rolle passenden etwas mädchenhaften Sopran glänzen. Torben Jürgens a.G. gibt einen wirschen und auch vokal etwas rauen Publio.
Der Augsburger GMD Domonkos Héja dirigiert die Ausburger Philharmoniker und den stimmstarken Opernchor des Staatstheaters Augsburg mit offenbar sehr Mozart-erfahrener Hand. Angesichts des allzu visuell orientierten Geschehens aus der Bühne hätte man dem guten Orchester gern eine größere Rolle zugestanden. Schon in der sehr akzentuiert gespielten Ouvertüre erklingen die Streicher brillant. Es gibt stets gute Transparenz der einzelnen Gruppen. Die Holzbläser sorgen für warme Tongebung, während Héja es bestens versteht, die Akzente richtig zu setzen und damit von der musikalischen Seite her dieser „Clemenza di Tito“ doch noch Gewicht zugeben. Großer Applaus für ihn und das Orchester sowie vor allem für Natalya Boeva und Ekaterina Aleksandrova. Applaus ohne Buhs auch für das Regieteam.
Fotos: 1-5 Jan-Pieter Fuhr, 6 K. Billand
Klaus Billand /31.10.2021