Mit Peter Konwitschnys Inszenierung der Walküre, die eine Wiederaufnahme der Dortmunder Premiere vom 21. Mai 2022 ist, hat Intendant Heribert Germeshausen eine Attraktion für die Wagner-Gemeinde nach Dortmund geholt, denn am 18. Mai 2025 wird der Dortmunder Ring durch die Premiere der Götterdämmerung in der Inszenierung von Peter Konwitschny komplettiert werden. Damit wird Dortmund einen ganzen Ring von Konwitschny haben, mit Kostümen und Bühnenbildern von vier verschiedenen Ausstattungsteams. Mit dem normalen Etat eines Stadttheaters ist eine solche Produktion nicht zu stemmen, aber man konnte Sponsorengelder für Siegfried, Wotan und Brünnhilde einwerben. Zusammen mit dem Rahmenprogramm der „Wagner-Lesarten“ hat man in Dortmund nun eine echte Alternative zu Bayreuth aufgelegt, deren zwei Ring-Zyklen im Mai 2025 und im Juni 2025 stattfinden.

„In eigner Fessel fing ich mich, ich Unfreiester Aller,“ singt Wotan und deutet damit an, dass er als Gott – Synonym für Herrscher – eben keine Willkürherrschaft mit Bevorzugung seiner eigenen Kinder treiben kann. Kernaufgabe des Herrschers sind Gerechtigkeit gegen jedermann und Landesverteidigung. In keiner Inszenierung der Walküre ist so klar geworden, wie stark der Herrscher an Gesetze und Verträge gebunden ist, wie in dieser Walküre. Den Gesellschaftsvertrag hat er in seinen Speer eingeritzt, den er aus dem Stamm der Weltesche geschlagen und damit die Natur zerstört hat. Dieser Frevel wird während des Vorspiels gezeigt. Die Zerrissenheit Wotans macht Tomasz Konieczny, der so aussieht, wie ich mir einen modernen Staatenlenker vorstelle, nämlich schlank und sportlich, nonchalant mit Augenklappe, in maßgeschneiderten Anzügen, im dritten Akt im Smoking, mit seinem großen Bassbariton sensibel greifbar. Seine Autorität als Gott demonstriert er mit Stimmgewalt, er zeigt aber im Umgang mit seiner Lieblingstochter Brünnhilde und seinem Sohn Siegmund seine Verletzlichkeit und Betroffenheit im zartesten Piano. Hier leidet ein Vater, der seine Kinder nicht beschützen kann, auch wenn er es will, ganz abgesehen davon, dass sein Ziel, mit Hilfe eines freien Helden den Allmacht verleihenden Ring des Nibelungen in die Hand zu bekommen, in immer weitere Ferne rückt. Wenn es das epische Theater Konwitschnys auch nicht intendiert: dieser Wotan erzeugt Empathie.
Die neun Walküren, alle in blauen Matrosenkleidern, Wotans illegitime Töchter, haben die Aufgabe, gefallene Helden in den Tod zu geleiten. Mit stilisierten schwarzen manngroßen Puppen, die sie tragen, deutet Konwitschny während des Walkürenritts diese Funktion an. Sie sind als Halbgöttinnen privilegiert, Brünnhilde als Wotans Lieblingstochter mit Erda, ganz besonders, denn sie hat er dazu ausersehen, seinen Sohn Siegmund, den er hoffte, als Helden in den Kampf um den begehrten Ring gegen die Nibelungen schicken zu können, im Kampf gegen Hunding zu unterstützen. Stéphanie Müther zeigt sich als „kühnes, herrliches Kind“, das mit ihrem Vater innig verbunden ist, was Konwitschny zu Beginn des zweiten Akts durch ein ausgelassenes Spiel der beiden andeutet. Sie versteht die Welt nicht mehr, als Wotan sie wegen ihrer Insubordination bestraft, hat sie doch erkannt, was Wotan wirklich will, aber nicht ausführen kann und darf, weil Recht und Gesetz ihn daran hindern. Stéphanie Müther verleiht mit ihrem großen, unverbrauchten strahlenden hochdramatischen Sopran der empathischen Schwester Siegmunds und ungehorsamen Tochter Wotans, die demütig ihre gerechte Strafe für ihren Ungehorsam annimmt, Kontur. Aber auch und gerade für Götter und Staatenlenker gelten Verträge, sie sind an Recht und Gesetz gebunden, und Fricka, Wotans Gattin, als Hüterin der Verträge, fordert Vertragstreue ein, kann sie sich doch auf diese Weise an Wotan für dessen Ehebrüche rächen.
Die Zwillinge Siegmund und Sieglinde, Kinder Wotans mit einer Menschenfrau, werden schon kurz nach der Geburt getrennt und wachsen ganz ohne Privilegien auf. Siegmund streift mit Wotan, inkognito, durch die Wälder und wächst wild auf, ohne seine Herkunft zu kennen. Sieglinde wird mit dem raubeinigen groben Krieger Hunding zwangsverheiratet und fristet das freudlose Dasein einer ihrem dominanten Gatten unterworfenen Frau, die ihrem polternden Mann zu Diensten ist und aufs Wort pariert.
Ein atemloser Gehetzter betritt die bescheidene Wohnküche und bricht ohnmächtig zusammen. Die Hausfrau Sieglinde verbindet seine Wunde und gewährt ihm Gastfreundschaft. Sie spürt, dass sie mit ihm etwas verbindet. Ihr misstrauischer Gatte Hunding, vom Kampf zurück, sieht die Ähnlichkeit der beiden sofort: sie sind Zwillinge! Unwillig gewährt er Siegmund für die Nacht das Gastrecht, fordert ihn aber für den nächsten Morgen zum Kampf, denn Siegmund war auf der Flucht vor ihm und seinen Männern.
Siegmund, der waffenlos ist, sucht überall nach dem Schwert, das ihm sein Vater verhieß. In der Weltesche steckt es nicht, die wurde schon vor Öffnung des Vorhangs krachend gefällt. Schließlich teilt sich die Bühne, und Wotan im schwarzen Anzug selbst weist ihm Nothung, das Schwert, das die ganze Zeit als Lampe getarnt an der Decke hing. Mit dieser Wunderwaffe hofft Siegmund, Hunding zu besiegen. Sieglinde hat ihrem Mann ein Schlafmittel in den Trunk gegeben, und in großer Leidenschaft fallen die Zwillinge übereinander her und zeugen Siegfried, wie die Musik erzählt und sich später zeigen wird. Fricka, Göttin der Ehe und Wotans Gattin, ist empört. Inzest und Ehebruch dürfen nicht ungesühnt bleiben, und kategorisch verbietet sie Wotan, Siegmund im Kampf gegen Hunding zu unterstützen. Wotan sieht ein, dass er als Herrscher und Hüter der Verträge seinen Sohn opfern muss und verbietet seiner Lieblingstochter Brünnhilde, im Kampf Partei für Siegmund zu ergreifen, sie müsse ihren Halbbruder auf seinen nahen Tod vorbereiten. Brünnhildes Todesverkündigung geht emotional unter die Haut. Aber Brünnhilde folgt ihrem Herzen und unterstützt Siegmund, da zerschmettert Wotan mit seinem Speer, Siegmunds Schwert Nothung, und Siegmund fällt durch Hunding. Allerdings erleidet auch Wotans Speer einen Totalschaden – seine Macht als Gott ist gebrochen. Sieglinde nimmt die Teile des zerstörten Schwerts an sich und flieht mit Brünnhilde.
Der dritte Akt beginnt mit dem berühmten „Walkürenritt“. Die acht Walküren warten auf Brünnhilde, die Sieglinde mit den Trümmern Nothungs der Obhut ihrer Schwestern anvertraut. Hier kann man den Verfremdungseffekt besonders gut verifizieren: die Walküren tragen königsblaue Matrosenkleider und reiten auf Steckenpferden. Jeder weiß, was gemeint ist, aber der Reigen, den die Damen in Kinderkleidern tanzen, kann unfreiwillig komisch wirken. Brünnhilde tritt Wotan allein gegenüber. In seinem Zorn über ihren Ungehorsam degradiert er seine Tochter mit Küchenschürze und Entzug der Walküren-Attribute und nimmt ihr den göttlichen Status. Auch das adrette Walküren Kleid muss sie ablegen und steht im weißen Unterkleid da. Aber sie verteidigt sich: sie habe doch nur das ausgeführt, was er eigentlich gewollt habe. Ja, aber er sei an Regeln und Verträge gebunden. Wotan will sie zur Strafe schutzlos am Wegesrand aussetzen, jedem Mann preisgegeben. Sie handelt als Strafe aus, auf einem Felsen ausgesetzt zu werden, allerdings umringt von einem Feuer, das nur ein Furchtloser überwinden kann. „Wotans Abschied“, die große Szene des Göttervaters und: „Wer meines Speeres Spitze fürchtet, durchschreite das Feuer nie. Einer nur freie die Braut, der freier als ich, der Gott,“ beendet das ergreifende Scheitern von Wotans Plänen. Einziger Hoffnungsschimmer: Sieglindes Schwangerschaft, wie Brünnhilde andeutet.

Die Premiere dieser Produktion fand am 21. Mai 2022 in Dortmund statt, die Uraufführung am 26. Juni 1870 im Nationaltheater München. Die Walküre ist der erste Teil des vierteiligen Ring des Nibelungen, der 1876 erstmalig komplett im Bayreuther Festspielhaus aufgeführt wurde. In den zyklischen Aufführungen in Dortmund beginnt man abweichend von der Bayreuther Praxis mit der Walküre, gefolgt von Siegfried, dann kommt als Rückblende Rheingold und zum Schluss Götterdämmerung, man weicht also von der Chronologie ab – auch das ein Element des epischen Theaters.
Der Stuttgarter Ring mit Peter Konwitschnys Inszenierung der Götterdämmerung und Christof Nels Walküre im Jahr 2000 hat nach Patrice Chereaus Bayreuther Inszenierung von 1978 die Entmythologisierung des Ring des Nibelungen fortgeführt. Hier war ein Element des epischen Theaters, jeden Teil von einem anderen Regieteam realisieren zu lassen. Das Verfahren des epischen Theaters regt mit Verfremdungen zum Nachdenken über die politische Dimension des Musikdramas an, die Wagners Opus magnum zweifelsfrei hat. Die Verfremdungen bestanden unter anderem darin, dass die Handlung in die Gegenwart verlegt wurde und die Bühnenausstattung sehr karg war, wie ein in die Mitte der Bühne gestelltes Puppenhaus. In Hundings Hütte und in Walhall dominierte die gleiche Farbkombination des Wohnraums, allerdings bei Wotan erheblich eleganter und größer als bei Hunding. Weder Felsen noch Feuer kamen real vor, aber Bühne und Kostüme von Philipp Schlössmann beschrieben sehr genau die soziale Stellung der Protagonisten. Wichtige Attribute wie Wotans und Brünhildes Speere wurden stilisiert als Requisiten eingesetzt, und Nothung sah aus wie ein richtiges Schwert.
Eigentlich hält Wagner den Herrschern seiner Zeit den Spiegel vor. Er hat in seiner Walküre sehr viel über die Rolle eines guten Herrschers ausgesagt. George Bernard Shaw sieht in seinem bereits 1898 erschienenen Buch „The perfect Wagnerite“ in Wagners Ring des Nibelungen eine „inspirierte Vermutung über die historischen Gesetze und das prädestinierte Ende unserer kapitalistisch-theokratischen Epoche“ und untersucht Parallelen zwischen Wagners Allegorien und der modernen kapitalistischen Gesellschaft. Shaw sieht in Kapitalisten wie Alberich und später Fafner die wahren Herren der Situation, während der Herrscher bzw. Gott von Verträgen und Regeln geknebelt ist und selbst seine eigenen Kinder vor dem Tod nicht bewahren kann. Das Konzept des epischen Theaters führt zu einer kritischen Distanz des Zuschauers zur Handlung, die politische Erkenntnisse ermöglicht. Wagners Musik ist jedoch so stark, dass Empathie mit Siegmund, Brünnhilde und Wotan sich trotzdem einstellt, auch wenn die Handlung verfremdet ist.
Die bestens aufgelegten Dortmunder Philharmoniker unter der Leitung von Gabriel Feltz erzählten die Geschichte mit musikalischen Mitteln und betonten die großen Gefühle, den Feuerzauber mit sechs Harfen, von denen je drei auf beiden Seiten der Bühne postiert waren. Die Besetzung war erstklassig, allen voran Stéphanie Müther als Brünnhilde und Tomasz Konieczny als Wotan, die beide ungeheuer ausdrucksstark, auch mit leisen Tönen, ihren Tochter-Vater-Konflikt austrugen.
Eine Überraschung für mich waren Barbara Senator als Sieglinde und Viktor Antipenko als Siegmund. Senator, die ich schon in mehreren dramatischen Sopran-Partien erleben konnte, war die perfekte Verkörperung der versklavten Hausfrau, die in heftiger Liebe zu ihrem Gast entbrennt, und Antipenko stellte mit seinem frischen unverbrauchten Tenor mit kraftvollen unendlich langen „Wälse“-Rufen manchen Mitbewerber in den Schatten. Die Spannungssteigerung im ersten Akt, die in die Zeugung Siegfrieds mündete, war ihr Verdienst. Der Bass Denis Velev als Hunding fiel schon als verliebter Riese Fasolt im Rheingold positiv auf. Er kann auch brutal. „Richte uns Männern das Mahl,“ so geringschätzig hat dieser Satz selten geklungen. Kai Rüütel-Pajula war eine eiskalte Fricka, die im Karrierefrauen-Kostüm mit schwarzem rot gefüttertem Mantel die Genugtuung genoss, ihren untreuen Mann zu zwingen, als Hüterin der Gesetze drei seiner unehelichen Kinder – Brünnhilde, Sieglinde und Siegmund im Stich zu lassen und zu bestrafen. Die acht Walküren waren hochkarätig besetzt und glänzten im Walkürenritt zu Beginn des zweiten Akts.
Das Publikum war deutlich überregionaler und auch festlicher gekleidet als in Dortmund üblich. Der schieren Gesamtlänge des Werks von fünf Stunden 30 Minuten geschuldet sind die beiden Pausen 40 Minuten und 50 Minuten lang, und die Gastronomie bietet einen Imbiss an. Eine junge Frau, die als einzige Oper bisher nur die Zauberflöte gesehen hatte, war hin und weg vor Begeisterung, und auch ich fand die Inszenierung rundum gelungen. Konwitschny ist vermutlich der Regisseur, der Wagners politische Intentionen – das Ende der zahlreichen deutschen Fürstendynastien und Erbmonarchien – am ehesten herausgearbeitet hat. Aber auch ohne die politische Dimension erlebt man die spannende Geschichte eines Vaters, der seine Lieblingstochter genau dafür bestraft, weil sie das tun will, was er selbst auch möchte, aber aus Gründen seiner Bindung an Recht und Gesetz nicht darf.
Ursula Hartlapp-Lindemeyer, 30. März 2025
Dank an unsere Freunde vom OPERNMAGAZIN
Die Walküre
Richard Wagner
Theater Dortmund
Aufführung am 23. März 2025
Premiere am 21. Mai 2022
Regie: Peter Konwitschny
Dirigat: Gabriel Feltz
Dortmunder Philharmoniker