Premiere: 9.2.2019
Mitleid für Turandot
Nach dem Fallen des Schlußvorhangs Freudentaumel beim Publikum. Absolut nachvollziehbar. Musikalisch ist die Dortmunder „Turandot“ wirklich Spitze, und die Inszenierung vermittelt äußerst interessante Aspekte. Mit Lob muß allerdings beim Chor (Einstudierung: Fabio Mancini) begonnen werden. Was dieser an brennender Vokalkraft bietet, ist nahezu einzigartig. Es sei erwähnt, daß sich ein vergleichbarer Eindruck vor kurzem bei Poulencs „Carmélites“ in Krefeld einstellte. Dortmunds Chorsänger werden auch darstellerisch stark gefordert. Der junge japanische Regisseur Tomo Sugao zeichnet ihn wirkungsvoll als eine leicht formbare Menschenmasse, mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt. Altoums Regentschaft wird selbst dann noch hochgejubelt, als der greise Herrscher im Finale zwei zusammenbricht und seine Leiche im Folgeakt wegtransportiert wird. Das Kollektiv reagiert je nach Situation mit (möglicherweise seit langem eingebleuter) Euphorie, dann wieder geduckt und angstbesessen wie etwa auch Bizets Perlenfischer (in der aktuellen Gelsenkirchener Inszenierung). Während Altoum aber hingebungsvoll verehrt wird, begegnet man seiner Tochter Turandot mit eher feindseligen Gefühlen. Aber man unterwirft sich notgedrungen ihrer Macht, wenn es beispielsweise gilt, den Namen des „unbekannten Prinzen“ ausfindig zu machen. Geisterhaft schwärmen die gefügigen Menschen über die Bühne, wobei ihre Taschenlampen zu den insgesamt eher historisierenden Kostümen von Mechthild Seipel einen leichten Kontrast bilden. Auch die Bühnenausstattung (Frank Philipp Schlössmann) gibt sich mit weitgehend nüchternen Wänden stilistisch weitläufig. Nur die realistische Drachenfigur im mittleren Bild ist ein wirklich dekoratives Monument. Grundsätzlich bleibt der szenische Aufbau alle Akte hindurch gleich. Optische Veränderungen rühren nicht wenig von den wechselnden Lichteinstellungen Ralph Jürgens‘ her.
Die emotionale Eiseskälte Turandots findet in ihrer Arie „In questa reggia“ eine nachvollziehbare Begründung. Eine Ahnin wurde nämlich brutal geschändet. Fast könnte man Puccinis Oper als Themeneröffnung für die heute grassierende #MeToo-Debatte ansehen, zumal Tomo Sugao nicht ausschließt, daß die emotionale Abschottung Turandots nicht nur aus besagter Erinnerung, sondern auch von effektivem sexuellen Mißbrauch durch den Vater und (!) die Minister herrührt. Der Regisseur bebildert die Arie mit dem Auftritt eines kleinen Mädchens, was aber leicht übertrieben anmutet. Daß das Minister-Trio jenseits seines traditionell buffonesken Anstrichs latente Beischlaf-Gelüste äußert und diese andeutungsweise auch ausübt, wirkt hingegen stimmig.
Auch dem Calaf gibt Sugao negative Konturen. Er zeigt sich zwar mitleidsfähig, aber der Kuß für Liu nach langer Zeit der Trennung hat etwas durchaus Besitzergreifendes. Der für Turandot nach dem Rätselsieg signalisiert Gleiches, widerspricht freilich der Formulierung vom „ersten Kuß“ im Finalakt. Ansonsten verweigert der Regisseur Calaf die übliche erotische Zielstrebigkeit. Für Sugao sind primär Machtgelüste Motive für sein Handeln. Am Schluß reißt Calaf des Kaisers Prachtgewand triumphierend an sich und stößt dabei seinen warnenden Vater Timur aus dem Weg. Sein Ziel ist jetzt erreicht. Turandot geht nach ihrem Liebesgeständnis nahezu unbeachtet im Hintergrund ab. Ob aus den beiden wirklich ein Paar wird? Ähnliche Zweifel vermittelte übrigens auch Lydia Steier in ihrer Kölner „Turandot“-Inszenierung 2017. In Dortmund müßte Puccinis Oper im Grunde „Calaf“ heißen.
Tomo Sugao entwirft ein sinistres Schicksalsgeschehen. in welchem die einzig wirkliche Lichtfigur, Liù nämlich, freiwillig in den Tod geht. Die Hymnik des von Franco Alfano nachkomponierten Finales (bewußt hat man in Dortmund auf die Berio-Version verzichtet) wird von den Verfinsterungen der Inszenierung aufgesogen. Ein dringliches Konzept, welches man zu aktuellen weltpolitischen Vorgängen leicht in Beziehung setzen könnte.
Den Dirigenten Gabriel Feltz zu beobachten bedeutet immer wieder Ereignis und Vergnügen. Seine hochgereckten Arme, die vibrierende Fingerhaltung, die minutiös gegebenen Einsätze für Orchester und Sänger – der Mann steht einfach unter Strom. Puccinis über weite Strecken lodernde Musik liegt ihm besonders, auch Pianopassagen gestaltet er mit einer Art sublimer Energie. Die Dortmunder Orchestermusiker bestätigen ihren offiziellen Namen „Philharmoniker“ nachdrücklich.
Erstklassig die Sängerbesetzung. Daß Stéphanie Müther bis vor wenigen Jahren im Mezzofach tätig war, mag man angesichts ihrer mühelosen, gleißenden Spitzentöne kaum glauben. Ein wahrhaft vulkanischer Sopran, der neben den Brünnhilden (demnächst in Chemnitz und in Japan) auch Lehárs Hanna Glawari meistert. Entschuldigung: aber fast noch mehr beeindruckt der Koreaner Andrea Shin als Calaf. Sein makellos geführter Tenor besitzt eine nie nachlassende Power, ohne daß vokale Gewaltsamkeiten stören. Die Höhen kommen unforciert, bleiben stets klangvoll. Einfach hinreißend. Dem Timur gibt Karl-Heinz Lehner die eminente Kraft seines sonoren Basses, was der körperlichen Hinfälligkeit des alten Mannes fast ein wenig zuwider läuft. Bei den hervorragenden Ministern rangiert der Südafrikaner Sunnyboy Dladla (welch kesser Name) leicht vor Morgan Moody und Fritz Steinbacher. Den Altoum könnte man sich stimmlich vielleicht etwas hinfälliger denken, als wie vom Ensemblemitglied a.D. Hannes Brock gezeichnet. In der Darstellung gibt er der Figur jedoch treffliche Umrisse.
Was Sae-Kyung Rim, die Sängerin der Liù, betrifft, sind gravierendere Einschränkungen anzubringen. Die Stimme flutet zwar beeindruckend, aber mit stetigem, unangemessenen Turandot-Forte. Der unbedingt erforderliche vokale Kontrast zur Titelfigur wird damit nivelliert, was ihr das euphorisierte Premierenpublikum jedoch erkennbar nicht vorwarf.
Christoph Zimmermann (10.2.2019)
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