Turbulent
Wenn man von den Publikumsrennern „Die Fledermaus“ oder „Die lustige Witwe“ mal absieht, findet man hierzulande in den Musiktheater-Spielplänen kaum noch Operetten. Besonders solche Werke dieses Genres, die nicht Johann Strauß oder Franz Lehár komponiert haben, kann man nur noch ganz vereinzelt erleben. Da ist es höchst erfreulich, dass das TfN (Theater für Niedersachsen) nun „Boccaccio“, die erfolgreichste Operette von Franz von Suppé, dem Mitbegründer der „Goldenen Wiener Operette“, herausgebracht hat. Der italienische Dichter Giovanni Boccaccio aus dem 14. Jahrhundert gilt mit seinem „Decamerone“ als der Erfinder der erotischen Literatur Europas. In der Operette dient er als Titelfigur der turbulenten Handlung dazu, einer moralisch verlogenen Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Dazu komponierte Suppé eine in hohem Maße eingängige, melodienreiche Musik, die neben bekannten Nummern wie „Hab‘ ich nur deine Liebe“ oder “Florenz hat schöne Frauen“ gekonnte Ensembles und zahlreiche, vergnügliche Couplets enthält.
Zum Inhalt: Im Florenz des Jahres 1331 sind die Männer in heller Aufregung, weil der berühmt-berüchtigte Dichter Boccaccio in der Stadt weilt und mit seiner freizügigen Literatur die Ehefrauen angeblich zur Untreue aufstachelt. Allerdings ist das, was er über die Florentiner Frauen schreibt, nicht ganz falsch. Die Männer wollen sich am Dichter rächen, doch erwischen sie dabei den Falschen. Boccaccio liebt Fiametta, die Ziehtochter des Gewürzkrämers Lambertuccio, in Wahrheit die leibliche Tochter des Herzogs von Florenz. Beide wissen lange nicht, wer der andere wirklich ist. Außerdem hat der Herzog als Fiamettas Gatten den Prinzen von Palermo auserwählt, der sich inkognito in Florenz aufhält und mit Isabella, der rassigen Frau des stets angesäuselten Fassbinders Lotteringhi, anbandelt. Natürlich gibt es nach einigen Verwicklungen für Boccaccio und Fiametta ein Happy End.
Mit der Neuinszenierung von „Boccaccio“ ist dem Oberspielleiter des TfN Guillermo Amaya trotz der Beibehaltung manch etwas altbackener Texte ein kurzweiliges Stück Musiktheater gelungen, an dem man einfach seinen Spaß hatte. Da sieht man nach der vom Orchester unter der Leitung von Florian Ziemen ausgesprochen schwungvoll musizierten Ouvertüre auf eine überdimensionale Schreibtischplatte vor der bekannten Silhouette von Florenz (Bühnenbild: Hannes Neumaier). Aus dem Off bekennt Boccaccio, dass er seine Geschichten nicht erfunden, sondern selbst erlebt hat – sogleich konnte das muntere Treiben beginnen: Die Schreibtischplatte wurde zum Spielort, wo Bücher Podeste und Rampen bildeten, eine Topfpflanze zum Olivenbaum mutierte oder ein Tintenfass das vom Fassbinder zu reparierende Weinfass darstellte.
Mitten in Florenz hörten dessen mittelalterlich und farbenfroh gekleideten Bewohner (Kostüme: Elisabeth Benning), wie die neuesten Novellen Boccaccios angepriesen wurden. Der Barbier Scalza (mit polterndem Bass Levente György), der Fassbinder Lotteringhi (stimmkräftig Jan Kristof Schliep) und der abergläubische Lambertuccio (vollstimmig und witzig Uwe Tobias Hieronimi, auch in dem, von ihm selbst getexteten Couplet) suchen Boccaccio, um ihn zu verprügeln, erwischen aber mit dem Prinzen Pietro von Palermo (mit kernigem Bariton munter im Spiel Peter Kubik) prompt den Falschen. Die Frauen Beatrice (schlankstimmig Antonia Radneva), Isabella (attraktiv und mit charaktervollem Mezzo Neele Kramer) und die ältere, dennoch Liebesabenteuern nicht abgeneigte Peronella (mit abgerundetem Alt Theresa Hoffmann) versuchen erfolgreich, ihren Ehemännern die Seitensprünge zu verheimlichen. Dabei werden sie auch von Boccaccio, dem Prinzen und dem Studenten Leonetto (Manuel Oswald) unterstützt. Sie gaukeln ihnen vor, man könne von einem Zauberbaum aus erotische Szenen sehen, in Wahrheit ihre Ehefrauen im Techtelmechtel – eine auf eine Novelle Boccaccios zurückgehende Szene.
Martina Nawrath/Dirk Konnerth
Mit ansteckender Spielfreude waren alle Beteiligten bei der Sache. Außerdem wurden durchweg ansprechende Gesangsleistungen erbracht. Hier sind allen voran Dirk Konnerth (Boccaccio) mit markantem Tenor und die klarstimmige, blitzsauber singende Martina Nawrath als entzückende Fiametta zu nennen, die u.a. mit dem berühmten, passenderweise italienisch gesungenen Duett „Mia bella fiorentina“ begeisterten. Der Opernchor und aus dem Jugendchor des TfN ansehnliche junge Damen als mit Degen ausgestattete Studenten waren ebenfalls mit agilem Spiel dabei und füllten die Chor-Szenen und die Akt-Finali mit ausgewogenem, prächtigen Klang (Einstudierung: Achim Falkenhausen).
Das Publikum war sehr angetan und spendete reichlich Applaus.
Gerhard Eckels 15. September 2015
Fotos: Jochen Quast
Weitere Vorstellungen: 1.,7.,17.10.+17.11.+13.12.2015 in Hildesheim (weitere Termine in anderen Orten)