Lieber Opernfreund-Freund,
Puccini selbst hat La Fanciulla del West, als seine beste Oper bezeichnet – und doch wird Das Mädchen aus dem Goldenen Westen, so der sperrige deutsche Titel des 1910 an der New Yorker MET aufgeführten Werkes, vergleichsweise selten gespielt. Das mag damit zusammenhängen, dass die Oper zwar menschliche Abgründe zeigt, jedoch mit einem Happy-End aufwartet. Ein Puccini ohne schwelgerische Melodienbögen, ohne leidende Heldin und ohne Sterbeszene scheint dem Opernpublikum offensichtlich weniger attraktiv. Dabei weist das Werk eine schroffe, interessante Tonsprache auf, die zu entdecken durchaus reizvoll ist. Und das kann man seit gestern am Theater Hagen.
Die Geschichte ist weitaus spröder als die der vorangegangenen Pucciniopern und spielt zur Zeit des Goldrauschs Mitte des 19. Jahrhunderts in Kalifornien. Minnie ist die einzige Frau in einem Goldgräbercamp und für die dort bis zur Erschöpfung arbeitenden Digger Mutterersatz, Freundin, Zuhörerin und Lehrerin zugleich. Und natürlich wird sie von den Männern auch als Frau begehrt – am meisten vom Sheriff Jack Rance. Doch Minnie weist alle ab, bis Dick Johnson sich in Camp verirrt, der eigentlich der flüchtiger Straßenräuber Ramerrez ist. Als der vom Sheriff verwundet wird, pokert Minnie im wahrsten Wortsinne um das Leben des Geliebten und verspricht sich selbst, wenn Jack gewinnt. Sie ermogelt sich den Sieg und zieht sich am Ende mit Ramerrez in die Berge zurück, nachdem sie ihn vor der Lynchjustiz der Goldgräber gerettet hat.
Regisseur Holger Potocki betont im Interview, dass er das der Oper oft anhaftende Westernklischee umgehen will und ja – es wird wenig geschossen und einen Cowboyhut trägt auch niemand. Und doch bleibt die Inszenierung recht konventionell, versinkt rein farblich in einem Einheitsbraun, zu dem Bühne und Kostüme von Lena Brexendorff zu verschmelzen scheinen. Die Idee Potockis, der sich selbst als ungeküssten Frau beschreibenden Minnie ein Kind anzudichten, mag der Tatsache geschuldet sein, dass die ansonsten heutzutage recht befremdlich erscheinende Szene mit Minnies indianischer Freundin Wowkle als Geschichte in einem Kinderbuch inszeniert werden kann – ansonsten belässt es Potocki mit seinem Team bei einer Bebilderung der Geschichte und weniger bei einer Interpretation.
Musikalisch wird Großes geboten in Hagen. Susanne Serfling scheint als Minnie um ihr Leben zu singen und zu spielen, so intensiv ist ihre Interpretation, so farbenreich ihr Gesang, so abwechslungsreich ihre Dynamik. Sie lotet die im Herzen grundgütige und doch resolute Frauenfigur, die heimlich auf privates Glück und Liebe hofft, bis in die letzte Faser aus und zeigt sich als Sängerdarstellerin erster Güte. Ihr zur Seite steht Angelos Samartzis, Ensemblemitglied am Saarländischen Staatstheater, und gibt einen innbrünstig singenden und spielenden Johnson. Seine metallisch funkelnden Höhen erinnern an den großen Mario del Monaco und strahlen bis in den letzten Winkel des Theaters; seine selbstbewusste Bühnenpräsenz tut ein Übriges, damit man bestens versteht, warum die einsame Minnie ihm sofort verfällt. Doch am Ende des Abends zeigt sich, wie anstrengend die Partie des Dick Johnson ist, erkämpft er sich die Schlussarie Ch’ella mi creda doch mit allzu viel Druck. Insu Hwang ist ein überzeugende Jack Rance, wirkt aber weit weniger böse als von Puccini gezeichnet; dafür hätte es ein wenig mehr dunkle Farbe in seinem Bariton bedurft.
Die Herren des Chores steigern sich im Laufe des Abends, wirken unter der Leitung von Wolfgang Müller-Salow zu Beginn noch ein wenig unorganisiert, trumpfen aber im letzten Akt gehörig auf. Ähnlich verhält es sich mit dem Philharmonischen Orchester Hagen. Unter der Leitung von GMD Joseph Trafton starten die Damen und Herren noch ein wenig verhalten in Puccinis wohl klanggewaltigste Partitur. Doch spätestens zum Finale des zweiten Aktes zeiht Trafton gekonnt alle Register, präsentiert klangliche Wucht und betont durchaus die Ecken und Kanten zwischen den gewohnten Pucciniklängen. Von den zahlreichen kleineren Rollen machen vor allem der Nick von Anton Kuzenok sowie der Sonora von Maksim Andreenkov Eindruck; die Wowkle von Nicole Nathbaar klingt (positionsbedingt aus dem Off) leider ebenso verloren wie der Jack Wallace von Kenneth Mattice, dessen an sich zu Herzen gehende Arie mich gestern kaum packt.
Das Publikum ist am Ende des Abends hingerissen und auch ich werde mir die Produktion sicher noch einmal ansehen. Also: nichts wie hin!
Ihr Jochen Rüth, 4. Dezember 2022
Giacomo Puccini: „La Fanciulla del West“
Besuchte Premiere: 3. Dezember 2022
Theater Hagen
Inszenierung: Holger Potocki
Bühne: Lena Brexendorff
Kostüme: Lena Brexendorff
Chorleitung: Wolfgang Müller-Salow
Musikalische Leitung: GMD Joseph Trafton
Philharmonisches Orchester Hagen
Weitere Vorstellungen: 10., 21, und 28. Dezember 2022, 20. Januar, 9. Februar, 11. März 2023.
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