Die 1987 uraufgeführte Oper Nixon in China von John Adams hat derzeit an großen und kleineren europäischen Häusern Konjunktur. In diesem Frühjahr stand sie in Madrid, Paris und Dortmund auf dem Spielplan, im Juni wird Hannover folgen, für die kommende Saison ist eine Neuproduktion an der Deutschen Oper Berlin angekündigt. Als eines der wenigen Erzeugnisse des zeitgenössischen Musiktheaters hat es Adams‘ abendfüllende Oper anscheinend in das Repertoire geschafft. Das hat Gründe. Die liegen zuerst in der Musik. Adams wird zwar üblicherweise mit Steve Reich und Philip Glass zum Dreigestirn der Minimal-Musik gezählt. Seine Musik ist jedoch weniger experimentell als die von Reich und verfügt über einen weiteren Horizont als die inzwischen nur noch für Filmsoundtracks taugende Konfektionsware von Glass. Das Grundprinzip der Minimal-Music, nämlich das Repetieren von motivischen Kleinstzellen auf der Basis tradierter Tonalität, hat Adams schon in seinen frühen Orchesterwerken nie dogmatisch starr angewendet. Der Gefahr einer damit einhergehenden Eintönigkeit begegnet er durch farbige und variantenreiche Orchestrierung und subtile Anverwandlung der Musiktradition. Insbesondere aber sind bei ihm oft Jazzelemente präsent, was sich in rhythmischem Drive und angeschärfter Harmonik bemerkbar macht. Für Nixon in China hat er geschickt musikalisches Zeitkolorit heraufbeschworen, indem er sich bei einigen Szenen bewußt an den Bigband-Sound der 1960er Jahre angelehnt und ihn mit seinen Mittel neu interpretiert hat.
Das Libretto von Alice Goodman ist literarisch elaboriert, holt die Zuschauer aber geschickt ab, indem es die Oper gleichsam dokumentarisch mit dem Landen der Präsidentenmaschine in Peking, der Begrüßung auf dem Rollfeld und dem anschließenden Staatsbankett beginnen läßt. Gekonnt hat die Autorin hier Originalzitate mit satirischen Elementen verknüpft. Der zweite Akt bietet dann Theater auf dem Theater. Aufgeführt wird zu Ehren der Staatsgäste das revolutionäre Ballett „Das rote Frauenbataillon“, das tatsächlich in China eines der wenigen nach der Kulturrevolution zugelassenen offiziellen Theaterwerke war. Die Balletthandlung nimmt surreale Züge an, wenn die amerikanischen Staatsgäste immer stärker in die Aufführung einbezogen werden und schnell die Grenze von Realität und Fiktion verschwimmt. Der dritte Akt schließlich gibt Einblick in das Innenleben der Protagonisten und läßt Mao und Nixon mit ihren Ehefrauen in sanft melancholischen, biographischen Rückschauen auf prägende Momente ihrer Vergangenheit blicken.
Das Theater Koblenz präsentiert in der aktuellen Neuproduktion des Werkes eine fulminante Leistungsschau seiner Bordmittel. Die Wahl des Aufführungsortes ist dabei so ungewöhnlich wie heikel: Die CGM-Arena, eine weiträumige und schmucklose Sporthalle, muß theatergerecht bespielt werden. Das gelingt dem Aufführungsteam um Markus Dietze mit beiläufiger Virtuosität. Christian Binz sorgt in seinem Bühnenbild für szenische Konzentration, indem er für zentrale Handlungselemente kleine und bewegliche Podeste nutzt, auf denen die Protagonisten einzeln oder in kleinen Gruppen agieren. In beiden Hälften des breiten Spielfelds stehen große, monolithische Flachbildschirme, die geschickt das Geschehen mal mit Original-Bilddokumenten, mal mit Graphiken kommentieren und immer wieder durch Live-Kamerabilder von den Darstellern Nähe zu den Figuren erzeugen. Damit gelingt, was man kaum für möglich gehalten hätte, daß nämlich die Figuren sich in der riesigen Sporthalle nicht verlieren und im Gegenteil als scharf gezeichnete Charaktere deutlich bleiben. Daß das weitläufige Sportfeld sich ideal für Massenaufmärsche eignen würde, hatte man dagegen erwartet. Dabei verstärkt das Inszenierungsteam noch die Wirkung einer uniformen Masse dadurch, daß die Reihen der realen Chorsänger und Statisten mit zahllosen Pappkameraden aufgefüllt werden. In den beiden Folgeakten dürfen sich die weiteren Sparten des Hauses profilieren. Die Ballettsparte glänzt mit ihren Solisten in der ausgedehnten Tanzeinlage vom „roten Frauenbataillon“, die den größten Teil des zweiten Aktes ausmacht.
Der dritte Akt bringt dann raffiniert eine Besonderheit des Koblenzer Theaters ein: ein eigenes Ensemble an Puppenspielern. Der auch für die Kostüme zuständige Bühnenbildner Christian Binz hatte in den ersten beiden Akten die Protagonisten mit Kostümen und Perücken optisch nahe an die historischen Vorbilder herangerückt. Im dritten Akt nun, wenn die Figuren sich nach den äußerlichen Staatsgeschäften zur Innenschau zurückziehen, sitzen die Darsteller ohne historische Kostümierung und Perücken gleichsam zurückgezogen inmitten von Pappkameraden auf dem den Zuschauern gegenüberliegenden Besucherpodest, während auf der Spielfläche lebensgroße Puppennachbildungen ihrer historischen Figuren miteinander agieren. Diese optische Aufspaltung von öffentlicher und privater Person ist plausibel aus der Textvorlage entwickelt und wird sehr überzeugend präsentiert.
So erweist sich durch das Geschick des Produktionsteams und das Zusammenwirken aller Sparten des Hauses die nüchterne Sportarena als ideale Spielfläche für die Rückbezüge auf die großen Ausstattungsopern des 19. Jahrhunderts mit ihren Massenszenen ebenso wie für die Elemente einer Kammeroper.
Auch in der musikalischen Umsetzung zeigt sich das kleine Koblenzer Theater leistungsstark. Andrew Finden überzeugt mit kernigem und angenehm timbriertem Bariton in der Titelpartie. Schon die erste Arie „News has a kind of mystery” wird von ihm hinreißend präsentiert. Danielle Rohr gewinnt in der Partie der Pat Nixon ihrem klaren Sopran immer wieder so viel Wärme ab, daß sie zur sympathischsten Figur des Abends wird. Tobias Haaks nutzt die wegen der räumlichen Weitläufigkeit nötige Mikrophonierung dazu, die mitunter unbequem hoch liegende Partie des Mao Tse-tung in einem angenehm leichten Parlandostil ohne Forcieren darzubieten. Als seine Frau Chiang Ch’ing begeistert Hana Lee, die im zweiten Akt autoritäre und gefährlich funkelnde Spitzentöne in das Publikum schleudert („I am the wife of Mao Tse-Tung“), um dann die Wandelbarkeit ihres Soprans mit sanfteren Tönen im Schlußakt vorzuführen (großartig ihre Arie „I can keep stil“). Christoph Plesser bewältigt nicht nur im ersten Akt die lange Tischrede des Chou En-lai mit weichem Bariton, der wegen der hohen Lage auch ohne weiteres als lyrischer Tenor durchgehen würde, sondern rundet den Abend in souveräner Abgeklärtheit mit der Schlußarie „I am old and can not sleep“ ab. Auch Theresa Dittmar, Haruna Yamazaki und Agnes Konnerth überzeugen als giftig-quirliges Trio der Sekretärinnen Maos. Die einzige durchgehend unsympathisch gezeichnete Politikerfigur des Henry Kissinger formt Nico Wouterse mit angemessener stimmlicher Rauheit.
Der Chor präsentiert seine ausgedehnten Einsätze in homogener Klangdichte. Das Orchester unter Marcus Merkel trägt den Abend zuverlässig über alle rhythmischen Klippen und entfaltet gediegen die Klangfarbenfülle der Partitur. Bei mancher Nummer hätte man sich ein wenig mehr rhythmischen Drive gewünscht.
Der Tontechnik gelingt es, die mikrophonierten Stimmen in den ebenfalls akustisch verstärkten Sound des Orchesters zu integrieren. Mitunter ist die verstärkte Musik aber sehr laut, zu laut eingepegelt, was auch in den Pausengesprächen als einziges Manko an einer ansonsten rundum gelungenen Produktion durchgängig vermerkt wird.
Sorgfalt und Liebe zum Detail zeigen sich schließlich in der Gestaltung des Programmheftes, dessen roter Umschlag mit gelbem Stern eine Reminiszenz an die „Mao-Bibel“ ist. Es bietet nicht nur eine gelungene Werkeinführung, sondern auch üppig bebilderte historische Hintergründe zur Opernhandlung. Auch an solchen scheinbaren Nebensächlichkeiten wird spürbar, daß die Aufführung dieses Werkes ein Herzensprojekt des gesamten Theaters von der Dramaturgie bis hin zu den Ausführenden ist. Produktionen von solcher Qualität sind eine überzeugende Antwort auf die Frage, wozu sich deutsche Kommunen den scheinbaren Luxus eigener Theater mit festen Ensembles leisten, und das gar wie in Koblenz gleich mit vier Sparten.
Michael Demel, 28. Mai 2023
John Adams: Nixon in China
Theater Koblenz
Besuchte Aufführung am 21. Mai 2023 (Premiere am 19. Mai 2023)
Inszenierung: Markus Dietze
Choreographie: Annett Göhre
Bühne und Kostüme: Christian Binz
Musikalische Leitung: Marcus Merkel
Staatsorchester Rheinische Philharmonie