Besuchte Vorstellung: Premiere am 28. August 2020
Monooper von Francis Poulenc/Kammeroper von Gian Carlo Menotti
Fast fühlte man sich wie in einer der „Kostproben“ im Lübecker Theater, jenen appetitmachenden kostenlosen Einblicken in die Inszenierung einer Oper etwa anderthalb Wochen vor der Premiere, die von interessierten Freunden des Lübecker Theaters sehr gerne wahrgenommen werden. Dann ist naturgemäß höchstens ein Drittel der Plätze besetzt. Aber es war die erste Aufführung nach der Corona-Pause, auf die das opernhungrige Lübecker Publikum sehnlichst gewartet hatte. Das Krisenkonzept der Theaterleitung war durchdacht, sah jeweils eine leere Reihe und zwischen den Zuschauern je zwei freie Sitzplätze vor. Ausgesprochen diszipliniert fügten sich die Lübecker, wobei mehr freie Plätze als der Not geschuldet zeigten, daß viele Respekt vor der zweiten Welle der Pandemie hatten und die Masse meiden wollten. Nun – es gibt noch eine zweite Premiere am Sonntag und angesichts der zunehmenden Überschreitungen des begründet verschärften Regelwerks durch eine Legion von Verschwörungstheoretikern, Rechtsradikalen und Ignoranten darf man sich über Zurückhaltung und Vorsicht eher freuen.
Höchsterfreulich und absolut überzeugend in jeder Hinsicht war der mit Spannung erwartete Doppelabend mit zwei Telephon-Opern, wobei dieses Genre durch diese beiden einaktigen Werke allerdings schon ausgefüllt sein dürfte. Gegen die allgemeine Einschränkungsdepression hat das Haus ein erfrischend humoriges Konzept gesetzt. Vom freundlichen Empfang und den ausgesprochen höflich vorgetragenen Hinweisen zur Einhaltung der gebotenen Regeln, über den Duktus der Texte im Programmheft (es gibt wieder richtige Hefte und keine unhandlichen Faltblätter mehr!) bis zur Auswahl der beiden Kurzopern mit ihren ironischen Brechungen („Die menschliche Stimme“) und ausgemachten Lachnummern („Das Telefon“) durchschwebte den kurzen aber intensiven Abend eine auch durch die minimierte Zahl an Mitwirkenden konzentrierte Leichtigkeit in höchster künstlerischer Vollendung.
Leicht ist Poulencs „La voix humaine“ eigentlich nicht, auch wenn man zu Beginn des Telephonats – denn das ist das einzige, was faktisch passiert – immer wieder die Augen gegen die wunderschöne Jugenstildecke dreht, weil man das Gequassel der jungen Frau im Kampf mit Telephonfräuleins und unliebsamen Fernsprech-Teilnehmern, die die Leitung blockieren, zuerst nur als nervend empfinden kann. Wie ernst die Sache tatsächlich ist, wird schnell klar, weil offensichtlich das Telephon die einzige Verbindung zu ihrem Geliebten ist, der sich vor Kurzem von der Dame getrennt hat. Diese Dame wird gesungen und gespielt von María Fernanda Castillo und was sie da am Premierenabend abgeliefert hat, war eine absolut hochkarätige Leistung in perfektem Zusammenspiel aus sehr anspruchsvollem Gesang in den unterschiedlichsten Stimmungsfärbungen und Tonstärken vom verliebten Gurren über den hysterischen Ausbruch bis zur tiefsten Verzweiflung.
Das Phänomen der Hysterie hat ein kluger Kopf einmal als erhöhte Durchlässigkeit der seelischen Membran bezeichnet und diese weniger abschätzig als psychologisch verständnisvolle Definition entspricht dem, was die Rolle verlangt und die Sopranistin geleistet hat: sie hat die angegriffene und verletzte Seele einer liebenden Frau in den Saal gesungen, geweint, geschrien. Diese Psyche ist zum Zerreißen gespannt wie das altrosafarbene Telephonkabel, das sie wie eine Nabelschnur mit der Außenwelt und dem geliebten Menschen verbindet. Daß das Kabel wie das Nornenseil schließlich unter ihrem verzweifelten Zerren reißt, bedeutet nicht Abnabelung, sondern ist der Auftakt zu ihrem Ende. Sie singt den Dialog ohne Verbindung weiter und man bleibt am Ende im Ungewissen, ob sie sich mit dem Kabel erdrosselt und ob es ihr Gegenüber tatsächlich jemals gegeben hat.
So tragisch die Geschichte ist – sie entstand doch aus einem Scherz. Poulenc erlebte in Mailand, wie die Callas am Ende der „Dialoge der Karmelitinnen“ den großen Mario Del Monaco in die Kulisse schubste, um den Applaus alleine genießen zu können. Poulencs Freund und Herausgeber Hervé Dugardin meinte: „Du müßtest etwas für die Callas alleine machen. So könnte sie sich nach Belieben verbeugen. Warum machst Du nicht ‚La voix humaine‘?“ Poulenc erinnert sich: „Ich habe sie gemacht, war mir aber sicher, sie der Callas nicht zu geben.“ Der Komponist entschied sich schließlich für Denise Duval als Uraufführungssolistin. Mit María Fernanda Castillo wäre Poulenc mit Sicherheit völlig einverstanden gewesen. Die „Brava“-Rufe nach dem letzten Takt kamen von Herzen und das zu Recht.
Die gelungene Inszenierung von Bernd Reiner Krieger nach einem Konzept von Vibeke Andersen und Rainer Vierlinger mit dem reduzierten Bühnenbild tat ihr Übriges, um die Vereinsamung der Protagonistin auf einem weißen Quadrat als kargen Raum ihres Lebens zu verbildlichen. Poulencs Musik ist immer wieder schlichtweg schön und ungemein stark. Daß das großartig aufgestellte Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck, von schwarzem Erbstüll schemenhaft verborgen, hinter der Vorderbühne spielte, entsprach klanglich und inhaltlich dem, was dieser kurzen Oper angemessen ist. Kaum hatten sich die Lübecker in den GMD und neuen Operndirektor Stefan Vladar verliebt, da unterbrach das weltbeherrschende Virus die so glückliche Liaison. Daß die Zwangspause an der hervorragenden Zusammenarbeit von Dirigent und Orchester und daraus resultierender Qualität nichts ändern konnte, bewies dieser erste Abend.
Als Zwischengruß aus der Künstlerküche gab Vladar, der ja als Pianist reüssiert hatte, bevor er das Dirigentenpult betrat, aus der Regieloge in der Umbaupause Poulencs „Improvisation Nr. 15 – Hommage à Edith Piaf“ und Eric Saties 1. „Gymnopédie“ zum Besten. Selten hat man das verträumte Stück so sangbar auf dem Pianoforte gehört, mit sensibel eingesetzten Synkopen und feinen Abstimmungen in den Tonstärken.
Und dann Menottis „Telefon“, das im Original treffend „L´amour à trois“ heißt, denn es ist keine Ménage à trois im eigentlichen Sinne; der junge Mann, der seiner Geliebten einen Heiratsantrag machen möchte, muß diese sich mit ihrem Telephon teilen. Die charmante Inszenierung von Rainer Vierlinger mit den farbenfrohen Sitzmöbeln, in denen die zahlreichen Telephone wie Kastenteufelchen plärren und schrillen, entlarvt die Apparate als Fetische. Wunderbarer Einfall, als Lucy das Telephonkabel mit dem Lockenstab in Form bringt. Das ist ein echtes Stück für geplagte Menschen der nicht ganz jungen Generation, deren Kinder, Nichten und Neffen sich zu Knechten der Kommunikations- und Unterhaltungselektronik gemacht haben und bei denen man sich als Kind der 60er Jahre fragt, wie oft wohl diese Daddeldinger zu einem Interruptus von was auch immer in deren jungen Leben und Lieben geführt haben mögen.
Jeder, der schonmal Theater gespielt hat, weiß, daß es auf der Bühne eher schwieriger ist, lustig zu sein als ernst. Die Sopranistin Andrea Stadel als Lucy und der Bariton Johan Hyunbong Choi als Ben boten in dieser Opera buffa weit mehr als Broadway-Slapstick. Der frische, humorvolle Charakter der Musik mit ihrem zum Telephon-Geplauder passenden dynamischen Rhythmus wird in Gesang und Spiel des Paares großartig aufgenommen. Es macht einfach nur Spaß, anzusehen, wie Andrea Stadel sich wie eine bekiffte Rheintochter laut lachend auf den Fauteuil schmeißt, während Hyunbong Choi dem Wahnsinn immer näherkommt, weil die Angebetete vor lauter oberflächlicher Plauderei nicht mitbekommt, daß er sie zu seiner Frau machen will. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als ein Telephon nach dem anderen unschädlich zu machen, indem er die Kabel ausreißt oder durchschneidet. Aber Lucy hat immer noch ein weiteres ihrer Babies im Plüschhocker – letztlich das Smartphone, das Ben ihr zu Beginn geschenkt hat. Die buchstäblich lange Leitung wird wie beim Tauziehen zwischen den beiden überdehnt und versinnbildlicht die Zerreißprobe ihrer Beziehung. Man hätte den armen Ben verstanden, wenn er einfach auf Nimmerwiedersehen den Zug genommen hätte, aber es ist halt wahre Liebe, die den Kommunikationswahnsinn schließlich mit seinen eigenen Mitteln austrickst. Er ruft sie also auf dem Weg zum Bahnhof an und das Happy-End ist perfekt.
Perfekt war dieser erste Premierenabend im Lübecker Theater, das mal wieder gezeigt hat, daß es nicht nur eines der besten Häuser im Norden ist, sondern souverän auch echte Krisen meistert.
Andreas Ströbl, 30.8.2020
Bilder (c) Theater Lübeck / Quast