Meer, Strand, Sonnengarantie, Wärme, frische exotische Früchte und klares Quellwasser! Was vor dem Hintergrund des trüb-grauen norddeutschen Winters als traumhafte Urlaubsvision erscheint, war für den Schotten Alexander Selkirk (1676 – 1721) ein über 4-jähriger, Alptraum, den er unter vor allem psychisch schwierigen Umständen allein auf der südpazifischen Isla Más a Tierra durchlebte. Als der 1704 ausgesetzte Seemann schließlich 1709 von einem britischen Schiff entdeckt und gerettet wurde, schrieb dessen Kapitän Woodes Rogers die Geschichte auf. Diese wurde 1713 in Hamburg von Johann Mattheson leicht abgewandelt übersetzt und so auch in Deutschland sechs Jahre vor dem Erscheinen von Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ populär. Mattheson, vor allem als Musiker, Komponist und Musiktheoretiker bekannt, war mit einer Engländerin verheiratet, sprach hervorragend Englisch und stand zudem in Diensten des englischen Gesandten in Hamburg. Sehr wahrscheinlich hat er Alexander Selkirk 1713 bei dessen Aufenthalt in Hamburg persönlich getroffen.
Die nach Defoes Roman sogenannte Robinsonade als Synonym für ein ungewollt isoliertes Leben auf einer einsamen Insel bildet nur einen Teil in der Ballade „Enoch Arden“ von Alfred Lord Tenneyson (1809 – 1892), die in der Bearbeitung zum von Richard Strauss vertonten Melodram am 24. Januar im Lübecker Theater zur Aufführung kam. Dabei wurde Brigitte Fassbaender (Rezitation), derzeit als Regisseurin der Strauss’schen Elektra in Lübeck tätig, von GMD Stefan Vladar am Flügel begleitet. Den zweiten Teil des Abends bildete ein Künstlergespräch der beiden.
Ursprünglich dauert der gesamte „Enoch Arden“ ca. 90 Minuten; für den Abend hat Brigitte Fassbaender den Text eigenhändig und schweren Herzens eingekürzt. Die Geschichte berührt sie, ebenso die Schönheit der Sprache, auch in der deutschen Fassung. Wie sehr sie dieser Eingriff geschmerzt haben muß, konnte jeder im Auditorium während der Lesung spüren und nachvollziehen. Sie rezitierte den Text nicht, sie lebte ihn, mit ihrer wunderbar warmen, weichen und so wandelbaren Stimme, mit ihrer Mimik und Gestik. Gebannt verfolgte das bis auf wenige (un)vermeidliche Huster mucksmäuschenstille Auditorium die tragische Geschichte des Fischers und liebenden Familienvaters Enoch Arden, der durch einen Schiffbruch 10 entbehrungsreiche Jahre auf einer Insel überlebend, bei seiner Rückkehr auch noch den Verlust seiner Familie an einen anderen Mann ertragen muß und daran zugrunde geht. Das große emotionale Spektrum der Fassbaender´schen Gestaltungskraft sorgte für atemlose Spannung. Sie durchlitt mit Enoch die Zeit auf der Insel, sie zögerte mit seiner Frau Annie die Hochzeit mit dem gemeinsamen Jungendfreund Philipp heraus und sie nahm in aller Tragik mit Enoch Abschied von seiner Familie und vom Leben. So mancher genoß die große Schönheit von Sprache und Vortrag mit geschlossenen Augen. Die ein oder andere dabei verdrückte Träne galt wohl nicht nur dem Stück, sondern auch einer Sprache, die mittlerweile durch Reformen, Anglizismen, Verkürzungen und Einfügen von Punkten und Sternen verunstaltet wird. Natürlich spricht niemand mehr wie im 19. Jahrhundert, aber Sätze wie „Dann stand er auf, und kehrte heim, und trug der lebenslangen Sehnsucht Weh im Herzen“ oder „Zehn Jahre flossen so ins Meer der Zeit, seit Enoch Herd und Vaterland verließ, und keine Nachricht kam von ihm nach Haus“ berühren noch immer und zeigen die fast kantable Ausdrucksvielfalt einer Sprache, die heute oftmals aus Gebilden wie „HDL“, „g2g“ oder „LOL“ besteht.
Man hätte mit dieser Stimme, mit diesem Durchleben und Durchleiden zu gern das ganze Stück hören mögen.
Kongenialer Partner in dem musikalischen Melodram war Stefan Vladar am Flügel. Immer in Blickkontakt mit der Rezitatorin setzte er alle Emotionen in der Strauss’schen Musik mal gewaltig, mal zart, mal glücklich und tragisch, perfekt um. In den Solopassagen spielte er sein pianistisches Können aus, in den untermalenden Stellen war er aufmerksamer Begleiter der nun fast singenden Stimme. Großer, langanhaltender Beifall dankte den beiden Protagonisten für dieses beeindruckende und mitreißende Erlebnis.
Nach der Pause folgte das Gespräch mit der ebenso weltberühmten, immens erfolgreichen wie freundlichen, humorvollen und vollkommen unprätentiösen Künstlerin. Charmant und eloquent stellte Stefan Vladar Fragen, brachte einzelne Namen ins Spiel und ließ so Brigitte Fassbaender vieles aus ihrem Leben berichten. Hier saßen zwei Menschen, die sich lange kennen; dabei diente Vladar nicht einfach als Stichwortgeber, sondern trug noch mit eigenen Geschichten und Erfahrungen zum Abend bei.
Als Tochter der Schauspielerin Sabine Peters und des Baritons Willi Domgraf-Fassbaender schien ihr Leben als Künstlerin vorbestimmt zu sein. Zunächst der Schauspielerei zugetan, wandte sie sich alsbald dem Gesang zu und wurde von ihrem Vater, mit dem sie Zeit seines Lebens über die Stimmbetreuung hinaus eng verbunden blieb, ausgebildet. Ihr erstes Engagement trat sie schon mit 21 Jahren in München an. „Es gibt keine Magd und keinen Pagen, den ich nicht gesungen habe“, beschreibt Brigitte Fassbaender ihre Anfangsjahre. Dann kamen die größeren und ganz großen Rollen und Anfang der 70er Jahre endlich der „Rosenkavalier“ mit dem Octavian, ihrer wohl berühmtesten Partie. Auch wenn eine berühmte Rollenvorgängerin ihr riet „Kindele, Sie müssen nicht nach dem Octavian gucken, der zieht sich immer nur um“ – die Verkörperung des jungen Adeligen schien ihre Lebensrolle zu sein, wenngleich sie selbst die Charlotte in Massenets „Werther“ als ihre Lieblingspartie bezeichnet.
Viele große Namen begleiteten Brigitte Fassbaender in ihrer Karriere; mit ihnen gab es beglückende Zusammenarbeit, ganz besonders Carlos Kleiber und Rudolf Hartmann hob sie hervor. Nur mit Herbert von Karajan währte die Zusammenarbeit nur kurz; nach drei Absagen ihrerseits war es aus. Ihren Abschied von der Bühne als Sängerin nahm sie bewußt noch in Vollbesitz ihrer stimmlichen Möglichkeiten, ihren eigenen Ansprüchen entsprechend. Sie wollte keinen Abstieg, kein Nachlassen der Kräfte, keinen Abschied auf Raten mit immer kleineren Rollen. So trat sie 1994 mit der Klytämnestra ab und ließ die Gesangskarriere noch ein Jahr mit den geliebten Liederabenden und Konzerten ausklingen. Längst schon hatte sie mit dem Inszenieren von Opern begonnen; nach verschiedenen Regiearbeiten u. a. in Coburg, Augsburg, Leeds, Amsterdam und Meinigen kam schon 1996 „Tristan und Isolde“ in Braunschweig. Die dann folgenden 13 Intendantenjahre in Innsbruck bezeichnet sie als besonders lehrreiche Zeit. Ihre große Liebe zur Literatur, zur Sprache spiegelt sich auch in ihrer Arbeit als Librettistin und Übersetzerin – man kann sich nur staunend und beeindruckt fragen, wie sie das alles zeitlich schafft.
Vieles hätte man an diesem Abend, an dem auch viel gelacht wurde, gerne noch, von der Künstlerin selbst erzählt, erfahren. Es war Genuß, Freude und Spaß, diesen beiden Künstlern zuzuhören und zuzusehen. Entsprechend herzlich, dankbar und ihre Person und ihr Lebenswerk würdigend, fiel der Beifall des begeisterten Publikums, unter dem auch viele Ensemblemitglieder waren, aus. Nach diesem „Vorabend“ erwartet man mit noch mehr Spannung ihre „Elektra“-Premiere am kommenden Samstag, 27. Januar im Großen Haus in Lübeck unter der musikalischen Leitung von Stefan Vladar.
Allen, die noch mehr über Brigitte Fassbaender als Star und als Mensch erfahren möchten, sei ihre 2019 erschienene Autobiographie „Komm aus dem Staunen nicht heraus“ unbedingt ans Herz gelegt!
Regina Ströbl, 25. Januar 2024
Enoch Arden
Melodram für Sprecher und Klavier von Richard Strauss
nach einem Gedicht von Alfred Lord Tennyson in der Übersetzung von Adolf Strodtmann
Theater Lübeck
24. Januar 2024
Rezitation: Brigitte Fassbaender
Klavier: Stefan Vladar