Osnabrück: „Orlando“

Premiere: 04.05.2019

Funkelndes Barockjuwel in exzellenter Regie

Lieber Opernfreund-Freund,

Georg Friedrich Händels erste Beschäftigung mit Ariosts Hauptwerk Orlando furioso (auf Deutsch: der rasende Roland), der 1733 uraufgeführte, hatte gestern am Theater Osnabrück. Dabei sorgt nicht nur die beschwingt-originelle Lesart des jungen Regisseurs Felix Schrödinger dafür, dass der Abend in purem Jubel endet.

Seit 1711 hatte Händel die italienische Oper in England verbreitet, internationale Sängerstars wurden eingekauft und präsentierten dem spektakelverliebten Londoner Publikum eine Schöpfung nach der anderen. Doch nach 20 Jahren wurde zunehmend Kritik laut an den durch die teuren Sänger horrend gestiegenen Eintrittspreise. Auch die 1728 uraufgeführte Beggar’s Opera von John Gay und Johann Christoph Pepusch, einer Persiflage auf den überzogenen Opernbetrieb, sorgte mit dem in der Folge gegründeten Ballad Opera, die ein originär englisches Genre förderte, für Konkurrenz zu Händels Unternehmen. Doch statt sich vom Opernbetrieb zurückzuziehen, brach Händel im Orlando mit Traditionen, schrieb Kurzarien ohne Da-Capo, führte orchesterbegleitete Rezitative ein und präsentierte auch in der Handlung einen Zwitter zwischen ernster und heiterer Oper. 1733 konnte das Londoner Publikum diesen Neuerungen noch nicht allzu viel abgewinnen, heute hingegen bietet dieser Mix aus Drama und Komödie ein herrliches Tableau für originelle Regieideen und eignet sich bestens für eine aktualisierte Umsetzung, wie Felix Schrödingers Arbeit zeigt.

Orlando behandelt das Dilemma des Titelhelden, sich zwischen Liebe und Krieg entscheiden zu müssen, so wie heute (nicht nur) Männer zwischen Karriere und Familie wählen, zwischen Stadt und Land, zwischen ursprünglicher Natur und vermeintlicher Zivilisation. Die beiden Gegenpole werden sinnfällig in einer Parklandschaft gezeigt, in der Natur und Urbanes sich vereinen, die Josefine Smid in genialer Weise auf die Drehbühne des Osnabrücker Theaters gestellt hat. Der Zauberer Zoroastro aus der Vorlage wird zum Imbissbudenbesitzer, der alle, die im Park unterwegs sind, genau beobachtet und deshalb – wie ein Seher – Entwicklungen vorausahnt und auch als einer der ersten bemerkt, dass Angelica sich in Medoro – in Osnabrück ein junger Musiker – verliebt und sich zusehends vom Geschäftsmann Orlando distanziert. Der schwört Rache und verliert den Verstand. Auch Medoros Freundin Dorinda, eine schwärmerische Schülerin, ist tief verletzt, erkennt aber, wohin blinde Liebe führen kann, und unterstützt ihren Exfreund gegen Orlando. Das alles hat dermaßen Hand und Fuß, dass es keine Sekunde konstruiert wirkt. Zusätzliche originelle Ideen Schrödingers, der seit vier Jahren Regieassistent am Staatstheater Oldenburg ist, und die liebevoll-individuelle Gestaltung der übrigen Parkbesucher durch Josefine Smids Kostüme machen das Barockspektakel zum rundum unterhaltsamen Musiktheaterabend im Hier und Heute.

Musiziert wird auf beachtlichem Niveau, wobei bedauernswerterweise ausgerechnet der gastierende Countertenor Antonio Giovannini hinter meinen Erwartungen zurückbleibt. Der junge Italiener braucht fast die komplette erste Hälfte des Abends, um sich freizusingen, ist gerne ein wenig zu tief und agiert so manieriert und barock, als hätte er Gérard Corbiauds Farinelli einmal zu oft gesehen. Das wirkt gerade im Vergleich zum ausgesprochen frisch aufspielenden übrigen Ensemble antiquiert. Hervorragend hingegen gelingt ihm seine Wahnsinnsszene im zweiten Akt und auch im Finalbild spielt und singt er wie befreit auf, zeigt perlende Koloraturen und sauberere Intonation. Ähnliches muss ich beim zweiten Gast des Abends, der in Bremen engagierten Marysol Schalit, nicht bemängeln. Die gebürtige Schweizerin kommt mit einem frischen Sopran voller Klarheit und mit unzähligen Nuancen daher, begeistert mit ansteckender Spielfreude, schlafwandlerisch sicherer Höhe und überzeugendem Ausdruck. Das ist ebenso sehr eine Freude, wie die koloraturfreudige Erika Simons, die die Dorinda ganz nach Schrödingers Regieansatz als mädchenhaft-romantische Figur zeichnet und mich erneut mit ihrer Klangschönheit in ihren Bann zieht. Auge und Ohr kann man ebenfalls kaum abwenden, wenn Katarina Morfa an der Reihe ist, so fesselnd ist das Spiel der Mezzosopranistin, die über einen beeindruckenden Stimmumfang voll dunkler Tiefe verfügt und deren scheinbar mühelosen Verzierungen mich in Timbre und Virtuosität an die junge Marilyn Horne erinnern. Die Partie des Zoroastro ist für Genadijus Bergorulko ein Stückchen zu hoch. Deshalb überzeugt das aus Litauen stammende Ensemblemitglied eher in den tiefen Passagen seiner Partie mit eindrucksvollem Bass – und spielt, wie immer, packend und voller Herzblut.

Im geöffneten Graben hält der Erste Kapellmeister Daniel Inbal die Fäden zusammen, glänzt mit barock-schlankem Strich und freut sich an den opulenten Klangfarben und lässt diese Barockjuwel wahrlich funkeln. Dass es dabei immer wieder zur Überlagerung der Sängerinnen und Sänger kommt, ist kein kleiner Wermutstropfen, schmälert aber den Gesamteindruck nicht. Das Orchester setzt sich aus auch solistisch überzeugend aufspielenden Musikerinnen und Musikern zusammen und so ist es nur recht und billig, dass Inbal beim Schlussapplaus immer wieder einzelne Instrumentalisten beklatschen lässt. Der ist frentetisch und will gar nicht mehr enden, als sich das Produktionsteam zeigt. Wie herzerfrischend ist es doch, zu sehen, was ein engagiert agierendes junge Team zu leisten vermag: es entsteht ein großer Musiktheatermoment und die drei Stunden vergehen wie im Flug.

Ihr Jochen Rüth

05.05.2019

Die Fotos stammen von Kerstin Schomburg.