Plauen: „Hoffmanns Erzählungen“, Jacques Offenbach

Betreiben wir zunächst ein wenig Philologie – denn im Fall der Contes d’Hoffmann muss man zunächst einmal fragen, welche „Contes“ gespielt werden. In Plauen hat man sich dazu entschlossen, das einzig Richtige zu tun: sich des Materials zu bedienen, das von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck herausgegeben wurde – „Material“, denn Offenbach hat, da die Oper bekanntlich nicht vollendet wurde, eine derart komplizierte Zuendeschreib-, Rekonstruktions- und Aufführungsgeschichte wie kein zweites Stück des europäischen Musiktheaters erlebt. Der Komponist hinterließ es nicht als „Werk“, sondern als gewaltige Materialansammlung, die unter Offenbachs Erben zerstreut worden ist. Noch vor relativ kurzer Zeit gelangen allerdings spektakuläre Quellenfunde: Aus den Tiefen des Pariser Opernarchivs tauchte das Zensurlibretto auf, das der letzten, nicht vollendeten Fassung zugrunde lag, und der Fund des 357 Takte umfassenden, allerdings auch nur fragmentarischen Finales des Giulietta-Akts revolutionierte unseren Blick auf den 4. Akt, ohne die Frage zu lösen, wie er genau endet: mit oder ohne Giuliettas Tod. 1999 konnte es endlich in Hamburg uraufgeführt werden. Kaye und Keck verdanken wir die Edition sämtlicher bekannter musikalischer Materialien; wer eine skrupulöse Text-Edition lesen will, sei auf die Ausgabe des Offenbach-Experten und -Aficionados Josef Heinzelmann verwiesen, dem wir auch den Fund des Zensurlibrettos verdanken. Wer es liest, wird vor neue dramaturgische Fragen (wie der nach dem apotheotischen Finale) gestellt. Es kann wohl nicht anders sein.

Lange Rede, kurzer Sinn: Zwar hat ein Dirigent bzw. Regisseur immer noch Freiheiten im Umgang mit dem Material (wo Zweitfassungen einzelner Nummern existieren oder der nach wie vor nur defizitär erhaltene 5. Akt vollendet werden muss), aber inzwischen hat sich, nachdem man jahrzehntelang die 1907 in Monte Carlo uraufgeführte Version einschließlich falschem Septett und halbechter Spiegelarie (halbecht, da die Musik zweifelsfrei von Offenbach stammt) als Normalversion akzeptiert hatte, eine neue Aufführungstradition in Sachen Contes d’Hoffmann entwickelt, die aus Altem und Neuem besteht: Dazu gehört die Ermordung Pitichinaccios durch Hoffmann in den letzten Takten des Giulietta-Akts und die unfreiwillige Selbstvergiftung Giuliettas, der mal stumme, mal singende Auftritt Stellas im Schlussakt und, normalerweise, die Apotheose, die Hoffmanns Liebesschmerzen als Voraussetzung für seine unsterbliche Kunst legitimiert.

© Christian Leischner

In Plauen kommt man auf eine Spiellänge von ca. 2 Stunden 35 Minuten. Sie würde länger sein, würde Franz sein Chanson singen und Stella am Ende noch singend auftreten, aber gut zweieinhalb Stunden sind eine gute Länge für eine Oper, für die bei Offenbachs Tod „nur“ eine Gerüstpartitur existierte, die noch der Ausfüllung durch den Komponisten bedurfte. Entscheidend für das Gelingen einer Aufführung von Hoffmanns Erzählungen ist jedoch weniger eine mehr oder weniger nach den Quellen abgestimmte Dramaturgie (gewiss, die auch; man kann da viel kaputtmachen: wie Fritz Oeser, der Ende der 70er Jahre eine krude Mischfassung aus Authentischem und schlecht Hinzuerfundenem und Komponiertem vorgelegt hat. Wer’s nicht glaubt, lese Robert Didions zwar schon 1988, also vor der Auffindung der oben genannten Quellen publizierten, doch nach wie vor kaum überholten Aufsatz über die Quellenlage). Entscheidend ist die musikalische Dignität einer Produktion – und sie betrifft vor allem die Hauptrollensänger, doch auch die Nebenrollen, nicht zum Wenigsten den Orchesterpart und den Chor. Also so ziemlich den gesamten akustischen Bereich. In Plauen steht mit Daniel Schliewa ein stimmpotenter, nicht brüllender, aber starker, auch des Lyrischen fähiger wie artikulatorisch deutlicher Dichter und Phantast auf der Bühne, der die wahrlich große Partie in all ihren Nuancen gut macht, wenn auch hier und da kleine Unsicherheiten auffallen; auch E.T.A. Hoffmann hatte ja seine Tagesformen.

Sein Widersacher heißt Alik Abdukayumov, als Lindorf und die anderen drei Teufelsbraten bringt er seinen dramatisch markanten Bariton ins böse Spiel effektvoll, durchaus auch ein wenig im Sinn der Kolportage des 19. Jahrhunderts ein: Hoffmanns Erzählungen ist auch, darauf verweist man, eine Fantasy-Oper.

© Christian Leischner

Hoffmanns Muse / Nicklausse hat mit Joanna Jaworowska eine liebenswürdig-schillernde Zwiegestalt erhalten: Hier die Königin der poetischen Sterne, eine Personifikation der KI (Künstliche Intelligenz bzw. Künstlerische Inspiration), dort der leicht zynische Mitgehilfe und Compagnon des poète maudit, des verfemten Dichters, wie ihn das 19. Jahrhundert so liebte. Jaworowskas Stimme geht nur manchmal im Kollektiv unter, wenn sie nicht als Solistin der Figur einen prägnanten Ausdruck gibt, der nie vergessen machen sollte, dass die Vorlage des Librettos, wie so oft, ein Schauspiel war und die Oper über Hoffmann zugleich eine vera opera und eine außergewöhnliche musikdramatische Studie über einen Ausnahmekünstler ist.

© Christian Leischner

Elisabeth Birgmeier ist eine schier beifallprovozierende Olympia, Christina Maria Gass eine stimmlich und schauspielerisch für sich einnehmende, gleichsam „romantische“ Antonia und Natalia Willot eine spitze (aber nicht hysterisch klingende) Giulietta. Drei Frauen – drei Charaktere, drei Sängerinnen – drei Möglichkeiten des Offenbach-Gesangs. Marcus Sandmann ist, gestisch und vokal, ein ausgesprochen guter Spalanzani, Andrey Valiguras ein profunder Crespel, auch Luther, während Jacob Romero Kressin mit sichtlichem Vergnügen die drei Dienerrollen ausfüllt: den Cochenille als köstliche Parodie auf eine latent frankensteinhafte Type, also a little bit gothic. Dass er Franz’ Couplet, das Couplet eines schwerhörigen Sängers, nicht singen darf, ist freilich schade, aber dramaturgisch trägt es leider nichts zur Handlung bei – abgesehen davon, dass es auf komischer Ebene das Thema des Gesangs im Antonia-Akt spiegelt. Dafür werden die Lieder des Librettos ausschließlich im französischen Original gebracht, auch der Schlager des Werks, die Barcarole, an welcher der Chor elementar beteiligt ist. Der Opern- und der Extrachor des Theaters Plauen-Zwickau macht das mit der Einstudierung von Michael Konstantin ordentlich – was heißt, dass der lupenreine Einsatz im initialen Glouglou-Chor noch verbesserungswürdig wäre, aber vielleicht liegt’s ja auch am Bühnenbild, dass man, wenn man mit Eidechsenohren hinhört, letzte Genauigkeiten vermisst. Man soll nicht meckern.

© Christian Leischner

Was aber sieht man, wenn man den Chor sieht? Unter der Regie von Dirk Löschner eine Masse von Menschen, die als schwarzgewandete KI-Männchen agieren sollen, leider infolgedessen auch nicht in tragbaren Kostümen und Masken, sondern mit lächerlichen gold- und ridikülen, extrem buntfarbigen Perücken auftreten, als seien sie einem schlecht gemachten Kindergeburtstag entsprungen. Für das ästhetische Desaster ist der Kostümbildner Christopher Melching verantwortlich, der zusammen mit der Maske (Diana Rohde) denkbar geschmacksfreie Kopfbedeckungen erfand, die inzwischen so häufig auf unseren Opernbühnen erschienen sind, dass man sie schon deshalb und nicht allein wegen erwiesener optischer Beleidigung endlich abschaffen sollte (auf die finalen Publikumsreaktion, siehe unten, hat die sichtbare Fehlentscheidung allerdings keinen Einfluss). Melching entwarf auch das Bühnenbild, das aus einer Projektionsfläche besteht, durch deren Strippen die Akteure leicht durchschlüpfen können. Problematisiert werden soll, lesen wir im Programmheft, die Rolle der KI im künstlerischen Prozess bzw. die Frage, ob die KI die Kunst generiert oder der Künstler die KI. Die Frage gebt verloren, denn abgesehen von einigen durchaus witzigen Frage-Antwort-Dialogen, deren Inhalt sich jeweils genau auf den folgenden Akt bezieht, und der als Sternenkönigin erscheinenden und so etwas wie eine KI-Göttin repräsentierenden Muse zieht Hoffmanns Erzählungen akkurat so an uns vorbei wie jede andere „normale“ Inszenierung der Oper: mit Hoffmann als mehrfachem Mörder, der nicht nur Pitichinaccio und Schléhmil, auch ein paar KI-linge abknallt. Vorsicht, Symbolik!

Die Projektionen bieten nebenbei die Möglichkeit, Einzelnes, genauer: Einzelne näher zu beleuchten: Wenn Hoffmanns Klein-Zack-Lied plötzlich in einen Lobpreis der schönen Geliebten umschlägt, sehen wir Stellas schöne Augen, wenn hinten bereits Olympia starr dasitzt, erblicken (!) wir die „Puppe“ als Schwarzweiß-Ikone und It-Girl der Stummfilmzeit (Antonia gehört dann eher in die 50er Jahre, Giulietta in irgendeine modische Gegenwart). Im Giulietta-Akt erscheint vermutlich, denn so genau erkennt (!) man es nicht, ein Geklump aus Glas-Augen, vermutlich aus Murano. Ist von der Violine die Rede, tritt im Antonia-Akt nicht nur eine Solo-Geigerin auf; wir sehen auch verfremdete Ausschnitte von Geigenstrichen und -körpern. Ansonsten flimmert’s (KI-generiert?) so, dass es nicht weiter stört, auch wenn der blitzflackernde Beginn des Abends manch Zuschauerin davon überzeugt haben mag, im falschen Film zu sitzen. Die Drehbühne wird im Übrigen gut genutzt: Beeindruckend schon die hinter der von Handwerkerhänden bewegten Gondel vorübergleitenden Zitate der starren Puppe und der toten Frau zu Beginn des Giulietta-Akts. Während die Barcarole ertönt und von der Prostituierten und einem potentiellen Freier die „schöne Liebe“ beschworen wird, sehen wir auf das desaströse Ergebnis der Hoffmann’schen Liebe und zwei der Opfer, die beide, wenn auch auf verschiedene Weise, eng mit Hoffmanns (phantastischem?) Widersacher zusammenhängen. Eins starkes Bild, keine Frage.

© Christian Leischner

Am Ende ist eh fast alles Poesie. Der hymnische Schluss der Inszenierung zeigt, wie so oft, aber dies ist ja nicht falsch, all die Gestalten, die wir in den Erzählungen sahen: die Produkte von Hoffmanns ausschweifender Phantasie, die nur deshalb in seinem Hirn entstehen konnten, weil er obsessiv besessen war von seiner Phantasiearbeit, die in der Figur der Muse eine romantische Interpretation erfahren hat. Dass der Reichtum seines künstlerischen Schaffens ihn, den Dichter und Liebenden (auch er hatte seine Stella; in Bamberg hieß sie Julia), letzten Endes nicht glücklich machen konnte: Die Regie zeigt es deutlich als Dilemma, dem der Mensch Hoffmann zum Opfer fällt. Die Clara-Schumann-Philharmoniker Plauen-Zwickau geben schließlich unter Paul Taubitz den Schlussakkord hinzu, nachdem sie mit eher kräftigen als hypersensiblen Klängen einen vitalen, bisweilen sehr schnellen, oft leidenschaftlichen, auf jeden Fall wirksamen Offenbach herausgespielt haben.

Nur: Warum stehen die Leute in Plauen schon nach 15 Sekunden Beifall von den Sitzen auf, um ihre „Standing Ovations“ über die Sänger zu ergießen? Ja, es war ein insgesamt guter Abend, aber (siehe oben) so gut war er denn doch nicht, um dem erfahrenen Opernfreund die Unsitte des Bejubelns von nichterstklassigen Produktionen verständlich zu machen, was die Freude über schöne einzelne Leistungen ja nicht ausschließt.

Frank Piontek, 17. November 2025


Hoffmanns Erzählungen
Jacques Offenbach

Vogtlandtheater Plauen

Besuchte Aufführung: 16. November 2025
Premiere: 2. Mai 2025

Inszenierung: Dirk Löschner
Musikalische Leitung: Paul Taubitz
Clara-Schumann-Philharmoniker Plauen-Zwickau