St. Gallen: „La Bohème“, Giacomo Puccini

Man kann es sich kaum vorstellen, dass die Kritiken über Puccinis LA BOHÈME nach ihrer Uraufführung so gemischt und teils gar vernichtend waren. Einer der Schreiberlinge sprach von Puccinis „Abdankung“, ein anderer (immerhin Turins führender Kritiker, Carlo Bersezio, meinte, LA BOHÈME werde „in der Geschichte unserer Oper kaum eine Spur hinterlassen …“. Immerhin erhielt Puccini Lob vom Mailänder Corriere della sera („Puccini hat einen großen Schritt vorwärts getan, die Musik fließt lebhaft dahin, bald überschwänglich, bald herzzerreißend …“) und ein Kritiker aus Genua schrieb: „Vielleicht bin ich Optimist, aber ich sage dieser Oper eine glänzende Laufbahn voraus.“ Recht sollte er haben! LA BOHÈME ist schlicht und einfach perfekt in ihrer Schilderung des Ambientes, der Emotionen der Protagonisten, dem melodischen Einfallsreichtum und der gekonnten, bühnenwirksamen Mischung und dem Timing von Sentiment und Humor. 

© Ludwig Olah

Der Dirigent der St. Galler Neuproduktion, Chefdirigent Modestas Pitrenas, bringt es im Programmheft auf den Punkt: „In dieser Oper gibt es keine einzige überflüssige Note, dafür allerdings einen Reigen an farbenreicher Instrumentierung.“ Und tatsächlich waren dies nicht bloß schöne Worte, sondern dieser Reigen an Farben wurde vom Sinfonieorchester St. Gallen unter seiner Leitung mit bestechender Transparenz umgesetzt. Da war jedes Arpeggio der Harfe, jedes Zwitschern der Flöte, jeder Lauf der Klarinette, jede fein umgesetzte Phrase der Violinen kristallklar herauszuhören, ohne dass die Musik je akademisch sezierend wurde. Die gefühlvolle Emphase blieb stets gewahrt, und die Balance zwischen den herausragenden Stimmen der Solisten, des Chors und des Opernchors des Theaters St. Gallen und des exzellenten Kinderchors (einstudiert von Filip Paluchowski) auf der Bühne und dem sängerfreundlich unterstützenden und die Handlung facettenreich kommentierenden Spiel des herrlich aufspielenden Orchesters aus dem Graben war schlicht überragend.

Doch das Gesamtkunstwerk Oper bedeutet nicht bloß Musik und Stimmen, die Dimension des Theatralischen und Optischen ist genauso ausschlaggebend, um Musiktheater zum Hör- und Gefühlserlebnis zu machen. Dies ist in dieser St. Galler Neuproduktion mit überragender Stimmigkeit geglückt. Das Inszenierungsteam um Regisseurin Guta Rau (Bühne: Isabelle Kittnar, Kostüme: Melina Poppe, Licht: Andreas Enzler) hat eine wunderbare, beglückende und bewegende BOHÈME auf die Bühne gebracht, die Zeitlosigkeit des Meisterwerks betont und ein bestechendes Konzept ohne jegliche aufgemotzten, fraglichen oder verstörenden Mätzchen vorgelegt.

© Ludwig Olah

Die Bühnengestaltung von Isabelle Kittnar ist aus mehreren, mobilen Fensterelementen zusammengesetzt. Im ersten Akt bilden die milchig trüben Scheiben das richtige Ambiente für das Künstleratelier dieser Wohngemeinschaft der vier lebensfrohen, aber armen Künstler. Die Nähe zum Bühnenrand und die Kleinräumigkeit dieser engen Dachwohnung bieten die Gelegenheit, die perfekte Personenführung der Regisseurin Guta Rau zu bewundern und der linke Rand bietet allerlei Möglichkeiten, Auf- und Abtritte hinter diesen Milchglasscheiben im perfekten Gegenlicht und mit dramaturgisch passender Schattenwerfung zu erleben. Die loftartigen Elemente schieben sich für den zweiten Akt, die Straßen Szene vor dem Café Momus, auseinander, die Silhouetten der Bühnenelemente werden mit verschiedenfarbigen Lichtschläuchen akzentuiert, erhalten Gebäudecharakter und öffnen den Spielraum für die quirligen Szenen des vorweihnachtlichen Treibens im Quartier Latin. Vom Bühnenhimmel fahren Christbaumkugeln in metallischen Farben herunter. Bald schon entschweben Mimì und Rodolfo auf ihren Stühlen eng umschlungen nach oben (zum Himmel der Liebe …), auch Marcello folgt ihnen nach und schließlich auch Musetta, die von oben die Anweisungen zur Düpierung ihres reichen Liebhabers Alcindoro gibt. Die Stühle von Marcello und Musetta sind vorerst getrennt, erst nach und nach rücken auch sie im Bühnenhimmel näher zusammen, ein Sinnbild ihrer On- / Off- Beziehung. Das ist alles wunderbar inszeniert, ohne überflüssigen Klamauk von Nebenhandlungen. Bevor sie entschwebt, singt Musetta ihre Walzerarie Quando me’n vo, und die Frauen aus dem Volk ahmen in der Choreografie dieses Verlangen der Frau nach Glück und Lust nach. Im dritten Akt, der im eiskalten Morgen an der Zollschranke spielt, sehen wir zwei Podeste mit den Glaselementen schräg nebeneinanderstehen: Rechts das Gasthaus mit late night Party (Betrunken wanken heraus), wo Marcello mit seinen Freunden und Musetta nun quasi zu Hause sind, links der Auftrittsort Mimìs. Sie wird ihren Planeten, ihre Insel nicht verlassen; sie gehört nicht zu den Bohemiens. Das wird ganz besonders im großen Duett mit Rodolfo in diesem Akt deutlich: Die beiden verlassen ihre getrennten Welten nicht, überwinden den Graben bloß durch das Berühren ihrer Hände über den Graben hinweg, doch die Blicke treffen sich nicht. Das geht unter die Haut! Auch Mimìs Kostüm bleibt die ganze Oper hindurch unverändert, ein Kostüm mit Anklängen ans neunzehnte Jahrhundert. Die andern sind vielfältiger gekleidet, entwickeln sich auch in der Art ihrer Kleidung, die wie aus dem Second Hand Laden mit individuellem Stil zusammengesetzt scheint: Rodolfo stets mit Wollmütze (erst gelb, dann schwarz) und dreiviertellangen Hosen und Wollstrümpfen, Marcello setzt im ersten Akt einen persönlichen Akzent mit dem violetten Mantels des Künstlers, später ist er im schwarzen Anzug mit Krawatte zu sehen, Schaunard erst im übermütigen Schottenrock als Musiker, dann in weit geschnittener, schwarzer Kleidung, Colline eher brav wie ein Sonntagsschüler, später im adretten siebziger Jahre Anzug mit Schlaghose. Musetta schließlich ist stets billig aufreizend angezogen. Alles in allem eine sinngebende, kluge Kostümdramaturgie von Melina Poppe. Auch in diesem dritten Akt wird von der Semitranparenz der nun mit eiskaltem, grauem Licht ausgeleuchteten Fensterelemente Gebrauch gemacht. Wir sehen hinter den Scheiben einen Zeitlupentanz (Anlass zu Marcellos Eifersuchtsanfall) von Schaunard, Colline und Musetta, während Marcello mit Rodolfo vorne duettieren und Mimì auf dem zweiten Element krank und verzweifelt liebend ihre wunderbare Arie Donde lieta uscì al tuo grido d’amore singt. Für den vierten Akt befinden wir uns nicht wieder im Dachatelier, sondern in einer schicken Galerie. Marcello und Rodolfo scheinen Karriere gemacht zu haben, es findet eine Vernissage statt, die Kulturschickeria bewegt sich Cüpli schlürfend in Zeitlupe und bewundert Marcellos Gemälde, das zwar immer noch die Teilung des roten Meeres darstellt – doch nun in schickem Schwarz – auf das Marcollo, ganz angesagter Aktionsmaler, rote Farbkleckse wirft, worauf auch der Hintergrund der Bühne nun in in Andreas Enzlers wunderbarem Lichtdesign in dekoratives Rot getaucht wird. Der einsame Tod Mimìs ist in diesem Ambiente nur noch ergreifender, erschreckend die Teilnahmslosigkeit der Gäste der Vernissage, geradezu erschütternd die Reaktion Rodolfos, wo er realisiert, dass Mimì tot ist. Auch wenn man LA BOHÈME schon Dutzende Male gesehen hat, fährt dieser Moment stets aufs Neue total ein, Tränen steigen hoch. So auch in dieser einfühlsamen und spannungsgeladenen Realisation durch das Inszenierungsteam.

© Ludwig Olah

Gesungen wird das alles vom hochkarätigen und sich homogen auf hohem Niveau präsentierenden Ensemble des Theaters St. Gallen mit überragender stimmlicher und darstellerischer Gestaltungskraft. Sylvia D’Eramo ist eine Mimì mit berückenden Piani, die sich mit Gänsehaut erregender Emphase in den Gefühlsstrudel dieser jungen Frau zu stürzen vermag. Brian Michael Moore gibt den Rodolfo mit lichter, höhensicherer und klar artikulierender Stimme und schön ausgestaltetem Legato, lausbübisch in den komischen, mit der gebotenen Ernsthaftigkeit in den tragischen Szenen. Der Marcello von Vincenzo Neri kann die unterschiedlichen Facetten seines Charakters mit fantastischer Plastizität über die Rampe bringen, seine Eifersucht, seinen Humor, seine tiefe Freundschaft und Verbundenheit mit Rodolfo. Seine Baritonstimme klingt einfach großartig, leicht und doch mit solidem Fundament. Die Musetta von Kali Hardwick steht ihm punkto Bühnenpräsenz und stimmlicher Souveränität in nichts nach, gestaltet ihren Wunschkonzerthit Quando me’n vo mit perlender Brillanz. Vincenzo Neri und Kali Hardwick stellen ein stimmlich perfektes Paar dar, auch wenn sie sich streiten und Eifersüchteleien überhandnehmen, spürt man doch eine innige Verbundenheit. Felix Gygli lässt als Schaunard mehr als aufhorchen: Was für ein klug gestaltender Sänger ist denn das! Von ihm (immerhin Kathleen-Ferrier-Award Preisträger und Einspringer am Opernhaus Zürich als ELIAS) wird man in Zukunft bestimmt noch viel Hörenswertes erleben dürfen. Genauso überzeugend gestaltet der Bass Jonas Jud die Rolle des Colline, singt mit fein empfundener Sensibilität die Arie Vecchia zimarra, senti (der Abschied von seinem Mantel, den er veräußern will um Medikamente für Mimì zu kaufen und der ein Ausstellungsstück in der Galerie darstellt). Großartig gestaltet auch Riccardo Botta die beiden Rollen Benoît und Alcindoro. Gerade die Szene mit dem Hausmeister Benoît ist ganz stark inszeniert. Barna Kovács (Parpignol), Robert Virabyan (Sergeant) und Frank Uhlig komplettieren das wunderbare Ensemble bestens.

Der LA-BOHÈME-Stoff beweist mit dieser starken Aufführung einmal mehr, dass er (entgegen der Meinung einiger Kritiker der Uraufführung) unsterblich ist – auch in der Musical-Version RENT, die 2024 in St. Gallen zu erleben war, war man begeistert und berührt. Vielleicht könnte man doch auch mal wieder die gleichzeitig mit Puccinis Vertonung entstandene Oper von Ruggiero Leoncavallo zur Diskussion stellen, die 2009 erfolgreich im Theater Luzern zu sehen gewesen war. Die hat nämlich auch ihre Meriten!

Kaspar Sannemann, 28. Oktober 2025


La Bohème
Giacomo Puccini

Theater St. Gallen

25. Oktober2025

Regie: Guta Rau 
Musikalische Leitung: Modestas Pitrenas
Sinfonieorchester St. Gallen