Aufführung am 15.09.2021
In prachtvollem Glanz und warmem Licht erstrahlt der frisch renovierte, ehrwürdige grosse Saal der Tonhalle Zürich. Wie glücklich ist man, dass pünktlich zur Wiedereröffnung nach vierjähriger Renovationszeit die Corona-Massnahmen soweit gelockert wurden, dass nun Live-Konzerte mit voller Platzbelegung wieder möglich sind. (Natürlich mit 3G-Zertifikat und Maske im Saal, nicht aber im Foyer) In eloquenten (Stadtpräsidentin Corinne Mauch), launigen (Präsident der Tonhalle-Gesellschaft Martin Vollenwyder) und überglücklichen (Intendantin Ilona Schmiel, die an diesem Tag auch Geburtstag feieren durfte) Ansprachen wurde das Publikum zu diesem ereiginshaften Eröffnungskonzert begrüsst.
Ein Ereignis war es tatsächlich, denn Music Director Paavo Järvi hatte sich für eine der gigantischsten Sinfonien des Konzertrepertoires entschieden, Mahlers 3. Kaum ein anderes Werk hätte besser zur Einweihung des prächtigen, unter Denkmalschutz stehenden Saals gepasst. Entstanden ist dieser sechssätzige Koloss, der in seinem Verlauf einen ganzen Kosmos aufbaut, Mitte der 1890er Jahre, also genau in der Zeit, als die neue Tonhalle am See vollendet wurde. Bereits kurz nach der Uraufführung in Krefeld (1902) erklang sie unter Volkmar Andreae auch in der Tonhalle Zürich (1904). Seither wurde das Werk mit seinen gigantischen Ausmassen immer wieder auf die Programme dieses Orchesters gesetzt, zuletzt 2006 unter David Zinman, der mit dem Tonhalle-Orchester auch eine Gesamteinspielung aller Mahler-Sinfonien vorlegte. Die von Mahler geforderte Grossbesetzung des Orchesters mit zusätzlichem Damen- und Knabenchor und Solo-Altstimme ermöglichte es, die immer schon ausgezeichnete Akustik des Saals, die während der Renovierung nochmals verbessert und justiert wurde, zu erkunden – und zu geniessen. Nichts kann ein Live-Erlebnis ersetzen, das wurde gerade mit diesem Werk ganz besonders deutlich, welches sowohl mit verinnerlichten Passagen im ppp-Bereich, als auch mit ffff-Explosionen mit riesigem Blechbläser-Aufgebot, drei Becken und ausgedehntem Schlagwerk aufwartet. Um es gleich vorwegzunehmen: Der Klang war überwältigend auf allen dynamischen Ebenen und mit allen Instrumentengruppen, auch der wunderbar warm und innig strömende Alt von Wiebke Lehmkuhl (in den Sätzen IV und V) und die beiden Chöre erfüllten den Raum mit klanglicher Pracht.
Die Sinfonie Mahlers beginnt mit dem markanten, marschartigen Motiv, welches als Unisono der acht Hörner vorgestellt wird, welch ein Einstieg in diesen mit seinen über 30 Minuten Spieldauer enorme Ausmasse aufweisenden Satz. Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich loteten in der zuerst zerklüfteten Welt die Themen und Formierungen mit bezwingender Kraft aus, fügten die immer wieder (auch plakativ und vermeintlich trivial Jahrmarktsstimmung verbreitenden Marschthemen) zusammen, formten ein bezwingendes Klangbild und liessen die kunstvolle Instrumentierung trotz aller dynamischen Opulenz nie ins oberflächlich Lärmige abgleiten. Immer wieder schimmerten lichte Passagen der Holzbläser auf (Englischhorn!) und perlende Harfenarpeggios, neben schmerzhaften Reibungen, die wie Geburtswehen der Natur klangen. So verdichteten sich die Marschrhythmen, bäumten sich gigantisch auf, fielen wieder zusammen bis sie zum triumphalen Gipfel strebten. Rasend!
Mahler wusste sehr genau, dass es nach diesem kraftvollen Wüten einen Ruhepunkt brauchte. Im lieblichen zweiten Satz, dem Menuetto, konnte man diese sanft wogende Ruhe finden (in einem ersten Entwurf hatte Mahler von einer Blumenwiese gesprochen, diesen naturalistischen Programmbeschrieb aber wieder gestrichen), bevor das quirlige Gekrabbel des Scherzos mit strukturierter, präziser Gestaltung durch Paavo Järvi einsetzte. Doch auch dieser unruhige, aber spannende Satz besitzt einen ausgedehnten Ruhepunkt, nämlich das wunderbare Posthorn-Solo, welches in fantastischer Reinheit aus dem Off erklang und ein einmaliges, traumhaftes Klangerlebnis bot, bevor der Satz mit einer lärmigen Groteske schloss.
Der vierte Satz steht in krassem Gegensatz dazu, verinnerlicht, düster, geheimnisvoll stellt die Alt-Stimme ihre Fragen, Wiebke Lehmkuhl sang den Text von Nietzsche mit immenser Eindringlichkeit. Das pausenlos anschliessende Bim-Bam des fünften Satzes klingt dagegen naiv, fast kitschig mit den Knabenstimmen (hervorragend intonierten die Zürcher Sängerknaben, einstudiert von Konrad und Alphons von Aarburg) und den Damen der Zürcher Sing-Akademie (einstudiert von Florian Helgarth). Doch zum Glück folgt nach diesem fünften Satz noch der sechste und hier erreicht Mahler mit einem ausgedehnten Adagio eine Tiefe des Ausdrucks, die brucknersche Ausmasse hat. Ein Streicherthema, das aus dem Hornthema des Anfangs der Sinfonie aufgebaut ist, aber nicht mit Markigkeit, sondern mit kantabler Innigkeit einnimmt, eröffnet diesen Satz – und die Streicher des Tonhalle-Orchesters scheinen die Hörer“innen damit zu umarmen, tröstlich aufzufangen. Die Liebe will triumphieren, alles überstrahlen. Das erklang unter Järvis Leitung voller entrückter Schönheit. Das Thema strebt (damit ähnlich zum Kopfsatz) immer wieder zur Kulmination, die absolute Erhabenheit wird aber erst nach mehreren Anläufen erreicht und explodiert dann gleich eines ausgedehnten, hinausgezögerten Orgasmus. Das mag effekthascherisch sein, doch die Wirkung verfehlt es nicht – das Publikum ist hingerissen, standing ovation. Verdient!
Kaspar Sannemann, 16.9.2021
Bilder (c) Tonhalle / Bally