Wien: „Die Entführung aus dem Serail“

Premiere: 12. Oktober 2020

Michael Laurenz,Regula Mühlemann

Nach den Erfolgen mit „Madama Butterfly“ und „Don Carlos“ ging das Aufwärmen von alten Produktionen an der Wiener Staatsoper als „Premieren“ nicht so fugenlos erfolgreich weiter. Ein Buh-Orkan nach den Ende der „Die Entführung aus dem Serail“ war stark genug, um echten Ärger vieler zu reflektieren (und nicht ein paar Einzelne, die Krach machen wollten), und das Erscheinen des Regisseurs heizte den Widerstand noch einmal an. Nicht jeder war also davon überzeugt, dass Hans Neuenfels 1998 an der Staatsoper Stuttgart einen „Klassiker“ geschaffen hat, der nun auch in Wien überzeugen müsste.

Was man zu Gunsten der Aufführung sagen kann, ist ihre gewisse Zeitlosigkeit. Es ist ein Nonsense-Zugang, wie Regisseure ihn manchmal wählen, wenn sie guter Laune sind oder ihnen sonst nichts einfällt. Dass die Inszenierung nicht von heute ist, merkt man nur daran, dass man keine politische Botschaft um die Ohren geschlagen bekommt. Gut, es gibt ein paar Brutalitäten – Osmin tritt mit abgeschlagenen Köpfen in den Händen auf (der Chor trägt ebensolche Trophäen beim Erscheinen des Bassa), und er „bändigt“ die Fliehenden mit Schlangen (Gummischlangen), das ist nicht gemütlich, aber doch im Kindertheater-Stil gehalten


Christian Natter, Daniel Behle, Michael Laurenz, Ludwig Blochberger

Wie, wenn man es genau nimmt, der ganze Abend. Berühmt geworden ist das Konzept von Hans Neuenfels durch die Verdoppelung der fünf Hauptpersonen, und anfangs glaubt man auch noch, hier einigen Sinn zu erkennen. Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust, wusste schon Goethe, und dass man eines Menschen schwankende Gefühle ausdrücken kann (mutige Geste nach vorne, während einem innerlich eigentlich schwummrig zumute ist beispielsweise), indem das Original und das Spiegelbild auseinander driften, zeigt sich anfangs – bei Belmonte, bei Osmin, bei Pedrillo.

Aber konsequent durchgeführt ist das nicht, die Schauspieler, die die Sänger „begleiten“, müssen oft in schrecklichem Neuenfels-Stil „Theater“ machen (ganz besonders Emanuela von Frankenberg als alternative Konstanze und Christian Nickel, dessen Bassa sicher kein souveräner Fürst, sondern ein ziemlich albernes Ärgernis ist – anfangs struppelig in Fetzen, am Ende im Frack, dazwischen mit gelbem Schlafrock oder mit Tigerkopf, unselig in dem, was ihm darstellerisch abgefordert wird.


Lisette Oropesa , Emanuela von Frankenberg, Christian Nickel

Worin bestünde das Konzept des Abends? Spaß mit Singspiel? Weil sich alle ununterbrochen flach auf den Bauch legen müssen? Ein Belmonte, optisch ganz Spanier (er ist ja ein solcher), eine Konstanze im schwarzen Abendkleid, die, wenn sie Sängerin ist, glücklicherweise nur singen muss, zweimal Pedrillo, das rosa Kostüm im Barock-Stil ist ziemlich penetrant, soll wohl Commedia dell’arte ahnen lassen (einmal darf das Alter Ego auch in ein Frauengewand schlüpfen), Osmin als alberner Exote, dessen schauspielerisches Alter Ego für Slapstick-Überschläge zuständig ist (für das Kostümchaos sorgte übrigens Bettina Merz), Blonde, die Engländerin (wo sie unter anderen als „Engländerinnen“ Winston Churchill und Miß Marple zitiert), teils very british mit Zylinder, teils im Federviehkostüm (!), nein, sie ist nicht Papagena, ja, was soll’s. (in diesem Fall ist die zweite Blonde so gut wir nicht vorhanden). Offenbar wollte der Regisseur zeigen, dass ihm immer etwas einfällt (auch eine metallige Puppe aus einem Science-fiction-Film, die plötzlich an den Tisch gesetzt wird) – was es soll, fragt ein braves Publikum heutzutage gar nicht, sondern nimmt das Sinnlose höflich hin.

Wer mit so vielen szenischen Willkür-Purzelbäumen nichts anfangen kann, wird mit dem musikalischen Teil des Abends hinreichend getröstet. Vor allem der Dirigent Antonello Manacorda widerlegt das Vorurteil, der „deutsche Mozart“ sei nur für deutsche Dirigenten da. O nein – Manacordas leichte Hand für das Leichte, Flittende dieser Musik, für den Zauber der immer wieder hervortrillernden Bläser-Soli, aber auch für den Schwung und die Dramatik war bemerkenswert, von der Ouvertüre an bis zur Begleitung der Martern-Arie, die wohl der Höhepunkt des Abends war.

Und Konstanze der Stern, der alles überglänzte. Wer Lisette Oropesa schon an der Met (im Kino) kennen gelernt hat, als so nachdrückliche Manon von Massenet, wie man sie von einer damals noch weitgehend Unbekannten nie erwartet hat, der war nicht überrascht – und doch: eine Konstanze, die mit dunkel leuchtendem Sopran und attackierender, darstellender Koloratur so leidenschaftlich gesungen und gestaltet wird, erlebt man nicht alle Tage. (Ihr geradezu gespenstisches Alter Ego in Gestalt von Emanuela von Frankenberg scheint überhaupt nichts mit ihr zu tun zu haben,) Als Blonde kontrastiert Regula Mühlemann mit heller, schlanker Stimme ganz in höchste Höhen wackelnd akustisch ganz gut, darstellerisch ist dem Regisseur zu ihr nichts eingefallen (und zu ihren nicht vorhandenen Alter Ego Stella Roberts glücklicherweise gar nichts) – da hat man schon, als man noch gern in Wien „Blondchen“ sagte, ein paar nachdrücklichere Damen in Erinnerungen.

Daniel Behle als Belmonte bietet edle Mozart-Kultur bei schön timbriertem Tenor, nur sobald er etwas tiefer gehen soll, verabschiedet sich die Stimme völlig. Und wie man einen Sänger wie Goran Jurić als Osmin einsetzen kann, der solche Defizite in der Tiefe hat, das erklärt sich nicht. Hingegen ist der Perdrillo von Michael Laurenz durchaus erfreulich. (Die Herren, die hinter ihnen her hüpfen, sind Christian Natter, Andreas Grötzinger und Ludwig Blochberger, um Aufmerksamkeit werbend, aber substanziell nicht wirklich nötig).

Einen Scherz, über den man lachen kann, leistet sich Neuenfels bei der „Entführung“ selbst, die ja szenisch immer blöde ausfällt, weil es nie Sinn macht, wenn mit einer Leiter gefummelt wird. Das Bühnenbild von Christian Schmidt mit einer Art Theaterportal im Hintergrund gibt es vor – wird da am Ende, Schabernack über Schabernack!, gar „Theater auf dem Theater“ gespielt? Jedenfalls fallen die Darsteller aus der Rolle, suchen die Leiter, die sie ja „immer brauchen, wenn wir die Entführung spielen“, und beschließen, sie diesmal wegzulassen. Ja, ein paar solcher Pointen mehr, und man wäre schon froher gewesen.

Das Ende hat sich der Regisseur selbst so ruiniert, dass es schlimmer nicht geht. Statt Mozarts Musik sprechen zu lassen, muss sich Bassa (im Frack, gerade hat er noch geraucht) darüber ärgern, dass er nicht singen durfte. Dafür will er jetzt ein Gedicht vortragen. Tut es, liest Mörikes „Denk es, o Seele“ von einem Zettel ab – ein Stück Memento Mori, das viel zu komplex ist, um da (noch dazu nicht wirklich gut interpretiert) wirklich verstanden zu werden. Damit hat man die starke Affektiertheit, die den Abend kennzeichnet, auf die Spitze getrieben.

Verblüffung. Licht aus. Buh-Rufe, und am Ende schon dafür nicht unverdient, denn wer sein Handwerk versteht, macht sich nicht selbst das Finale kaputt. Hans Neuenfels nahm den Buh-Orkan, der ihm galt, unbewegt hin. Er ist dergleichen gewohnt.

Renate Wagner, 15.10.2020

Foto: Wiener Staatsoper / Pöhn