Berlin: „La traviata“

Vorstellung am 20. 12. 2019

Überflüssig und ärgerlich

Violetta besorgt sich einen Grabkranz mit weißen Blüten, denn sie ist im Besitz ihrer Röntgenaufnahmen samt Befund des Lungenarztes, der ihr ein baldiges Ende voraussagt. So beginnt Nicola Raabs Neuinszenierung von Verdis La traviata an der Komischen Oper. Berlins Opernlandschaft hat damit eine weitere Triplette im Repertoire – noch dazu von einem sattsam populären Werk. Die Neuproduktion hat weder neue Erkenntnisse noch überraschende Einsichten gebracht, sondern im Gegenteil mangelndes handwerkliches Vermögen der Regisseurin bewiesen. Die Chorführung in den Festbildern ist ausgesprochen dilettantisch – ein Frevel gerade an diesem Haus. Da sitzen die Gäste regungslos auf Stühlen oder bewegen sich wie aufgezogene Marionetten hin und her, müssen sich auf dem Ball bei Flora in modernen Business-Anzügen sogar ausgedehnt ihren Smartphones widmen. Dafür gibt es weder die vorgeschriebenen Auftritte von Zigeunern noch Stierkämpfern. Annemarie Woods sorgt in ihren Kostümen für einen extremen Mix aus Alltagskleidung und historisierenden extravaganten Roben über Krinolinen und Lacklederstiefeln für die Damen. Madeleine Boyd hat die Bühne mit hohen Wänden aus roh verputzten Backsteinen eingefasst und sie damit zur Lagerhalle degradiert. Eine Glaswand in der Mitte teilt die Szenerie in zwei Hälften und ermöglicht gelegentlich reizvolle Silhouettenwirkungen. Nur geringfügig verändert wird dieser Spielort – omnipräsent ist nur Violettas Computer, der ihr auch als Spiegel dient. Im zweiten Bild fallen Herbstblätter herab und bringen eine melancholische Abschiedsstimmung ein. Der Ballsaal bei Flora (Marta Mika), die mit ihrem folkloristischen Kostüm und dem Kopfputz aus Blüten und Blättern seltsamerweise daherkommt wie Frieda Kalho, gleicht eeinem Internet-Café mit mehreren Computern und Drehstühlen. Die Damen des Etablissements schieben sich die Smartphones unter die Röcke, um ihre Intimzone zu fotografieren. Später fährt eine Tafel mit Früchten herein, mehrere Gäste beginnen sich zu entkleiden, ein splitternacktes Paar betröpfelt sich mit Granatapfelsaft. Diese Bilder sollen eine dekadente Gesellschaft zeigen und sind doch nur peinlich und abgegriffen.

Die Röntgenbilder setzt die Regisseurin in vielen Szenen ein – Violetta zeigt sie Germont statt der Verkaufsbescheinigung für ihren Besitz, Alfredo bezahlt sie damit für ihre Liebe statt mit Banknoten, Violetta hält statt Germonts Brief eine Röntgenaufnahme in der Hand, die sie am Ende ihrer Arie „Addio, del passato“ zerreißt. Die Titelheldin Natalya Pavlova hatte in dieser Szene ihre stärksten Momente. Der Vortrag war erfüllt von schmerzlicher Wehmut, trotz der gesummten, in der Tonart veränderten und nur von der Harfe begleiteten zweiten Strophe. Auch im Duett mit Germont ließ sie innige Lyrik und starke Intensität im Ausdruck vernehmen. Zuvor offenbarte ihr Sopran Intonationstrübungen und grelle Spitzentöne, worunter vor allem das große Solo „È strano“ litt, bei dem historische Schwarz/Weiß-Filmausschnitte mit Greta Garbo eingespielt werden. Alfredo muss seine Einwürfe („Amor, amor è palpito“) im Hintergrund an der Harfe als Konzertauftritt absolvieren. Der Tenor Ivan Magrì, als Figur hölzern und steif, verfügt über reiches Material, doch ist sein Singen unökonomisch, die Tongebung grob und unelegant mit dem Ergebnis eines grobschlächtigen Klanges. Seine Arie im 2. Bild singt er mit Emphase, die Cabaletta mit trotziger Verve und hohem Schlusston. Violettas und Alfredos Abschiedsduett am Ende begaffen im Hintergrund Herren in voyeuristischer Manier.

Seltsam geführt wird Günter Papendell als Germont, der Violettas Landhaus als junger Mann in heutiger schwarzer Privatkleidung betritt, von ihr dann einen langen Mantel, Zylinder und Stock erhält und sich zum alten, hinfälligen Herrn verwandelt. Erst nach Violettas Tod legt er Mantel und Hut wieder ab mit dem Ergebnis einer Verjüngung. Das geschätzte Ensemblemitglied des Hauses brauchte eine Anlaufzeit, um seinen anfangs verquollen klingenden Bariton zu fokussieren. Am Schluss von „Di Provenza“ hörte man dann endlich die von ihm bekannten imposanten Töne und auch der Auftritt bei Flora besaß gebührende Autorität. Merkwürdig distanziert und desinteressiert bleibt Doktor Grenvil (Philipp Meierhöfer) angesichts der sterbenden Violetta, seine Aufmerksamkeit gilt mehr der smarten Annina im modernen Hosenanzug (Caren van Oijen mit stimmlichen Resten), die von der Regisseurin zu anhaltendem Fensterputzen angehalten wurde.

Das größte Ärgernis der Neuproduktion aber ist die musikalische Leitung durch den Generalmusikdirektor des Hauses, Ainärs Rubikis, der mit dem Orchester der Komischen Oper Berlin durch die Partitur fegt wie ein Wirbelsturm, die Sänger und die Chorsolisten (Einstudierung: David Cavelius) hetzt und Violettas Abschied von Alfredo unsensibel begleitet. Merkwürdig und ärgerlich sind zudem einige Eigenwilligkeiten, wie das mehrfach unterbrochene Vorspiel zum 1. Akt oder die eingespielte Musik von fremder Hand vor dem letzten Bild. Dennoch großer Jubel des voll besetzten Hauses

Bernd Hoppe, 22.12.2019

Bilder siehe unten Premierenbericht