Hamburg: Gurre-Lieder

Ein Rausch für alle Sinne

Als der Schlusschor „Seht die Sonne farbenfroh am Himmelssaum“ verklungen war, musste man sich fast eine Träne wegwischen – so ergreifend und so überwältigend wurde er vom MDR Rundfunkchor Leipzig (Nicolas Fink), dem Chor der Hamburgischen Staatsoper (Eberhard Friedrich) und dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Kent Nagano dargeboten. Die Rede ist von den „Gurre-Liedern“ von Arnold Schönberg, die in der Hamburger Elbphilharmonie eine fulminante Aufführung erfuhren. Das auf einen Text des dänischen Dichters Jens Peter Jacobsen komponierte Oratorium gehört zu den nur mit größtem Aufwand zu realisierenden Mammutwerken, zu denen auch die erst kürzlich in Hamburg aufgeführte 8. Sinfonie von Mahler zählt. Die „Gurre-Lieder“ erzählen die Legende von König Waldemar und seiner Geliebten Tove. Tove wird getötet, woraufhin Waldemar mit Gott hadert. Zur Strafe müssen er und seine Mannen als unerlöste Tote durch die Nacht reiten. Der hymnische Schlusschor zeugt von der versöhnlichen Kraft der Natur.

Nagano und das Philharmonische Staatsorchester kosteten den Klangrausch des spätromantischen Werkes voll aus. Unglaublich, was Nagano mit seinen Musikern an Orchesterfarben hervorzaubern konnte. Der Fluss der Musik und die dynamischen Abstufungen waren optimal. Nagano behielt stets den Überblick über den riesigen Apparat und beglückte mit einer herausragenden Interpretation. Auch die emotionale Bandbreite des Werkes wurde dabei punktgenau getroffen. Die leidenschaftliche Liebe zwischen Waldemar und Tove wurde vom Orchester mit Hitzegraden verdeutlicht, als wäre man bei „Tristan und Isolde“. Großartig der orchestrale „Aufschrei“ bei Toves Tod, berührend das anschließende Lamento der Waldtaube. Die nächtliche Jagd der Untoten wurde furios und plastisch nachvollzogen. Dieser Schönberg war dank der herausragenden Leistung des Orchesters ein Rausch für alle Sinne.

Als kleines Problem erwies sich die Balance zwischen Orchester und Solisten. Von der weitgehend nicht vorhandenen Textdeutlichkeit abgesehen, hatten sie es auch schwer, über das Orchester zu kommen. Das betraf besonders den Tenor Torsten Kerl, der dem Waldemar zwar viel Leidenschaft mitgab, der aber in den Klangfluten auch oft unterging. Dorothea Röschmann war da als Tove mit leuchtenden Tönen präsenter. Die Mezzosopranistin Claudia Mahnke versah die Klage der Waldtaube mit pastosem Wohlklang und tiefem Ausdruck. Wilhelm Schwinghammer war der lyrische, liedhaft gestaltende Bauer und Wolfgang Ablinger-Sperrhacke gab mit präsentem Charaktertenor dem Klaus-Narr philosophisches Profil. Den gesprochenen Text übernahm Anja Silja, die ihre Aufgabe sehr profiliert löste und sie mit einer fast gesanglichen Attitüde erfüllte.

Wolfgang Denker, 20.06.2017

Foto von Felix Broede