Zürich: Schumann | Bruckner

Konzert am 28.01.2022

Das Adagio in Anton Bruckners siebter Sinfonie stellt wohl einen der am längsten hinausgezögerten und am wuchtigsten explodierenden musikalischen Orgasmen der Musikgeschichte dar. Ausgerechnet ein mönchisch (asexuell?) lebender und tief im katholischen Glauben verwurzelter, oft von Zwangsneurosen geplagter Mann wie Bruckner komponierte diesen sich in mehreren Anläufen aufbauenden, in beispielloser Extase kulminierenden Satz. Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester Zürich blieben in ihrer phänomenalen Interpretation diesem Rausch nichts an Leidenschaft schuldig. Auf dem phänomenal klangsatten Fundament der herausragenden Streichergruppen aufbauend errichtete Järvi in allen vier Sätzen eine gleissende, von beispielloser Präzision geprägte Architektonik von gigantischem Format. Dabei wurden alle dynamischen Stufen bis zur Schmerzgrenze im ffff Bereich ausgereizt – und die Akustik der Tonhalle hielt auch diesen Bereich problemlos aus. Bruckner war ja klug genug, die sich aufbäumenden Klangwogen immer wieder in sich zusammenfallen zu lassen, Effekte, welche Järvi und das Orchester mit wunderbarem Klangsinn auskosteten. Das Ohr wurde gereizt, doch kaum je überreizt. Das unermüdliche Ringen der Themen des Schmerzes mit kontrastierenden Naturstimmungen, untermalt von weihevollen Einwürfen des Blechs, prägte den wuchtigen Kopfsatz, der in einem satten, mitreissenden Crescendo mit Paukenwirbel endete. Klug disponierte Järvi das Adagio, im Gefühlsausdruck eher zurückhaltend und kühl angelegt, aber die glasklare Präzision und das untrügliche Gespür für die Zähmung der „Riesenschlange“ (so nannte der Kritiker Eduard Hanslick diese Sinfonie) führten mit unheimlicher Konsequenz zum erlösenden Beckenschlag. Dieser nicht unumstrittene, und vermutlich von einem Bruckner-Schüler eingefügte Effekt, wurde zum Glück in dieser Aufführung in der Tonhalle beibehalten – er gehört einfach zu dieser Sinfonie! Von beinahe verspielter, galoppierender Leichtigkeit geprägt erklang das Scherzo, in dessen Mittelteil ein Trio mit wogender Sanftheit anhob. Die Reprise des Satzanfangs vertrieb die Idylle mit reisserischer, aufpeitschender und anschwellender Kraft. Den Schlusssatz gingen Järvi und das Orchester vorwärtsdrängend an, das Choralhafte wurde zunehmend an den Rand gedrängt, ein kurzes „Meistersinger“-Zitat tauchte subtil hervorgehoben in den Violinen auf, die überbordende Dynamik gewann schliesslich die Oberhand und mit trotz des übermächtigen Orchestertuttis hörbar jubelnden Streichern schritt die Sinfonie ihrem triumphalen Ende entgegen – gefeiert vom enthusiastischen Publikum.

Doch was setzt man dieser sinfonischen „Riesenschlange“, die mit knapp unter 70 Minuten Spieldauer nicht ganz einen Konzertabend füllend ist, programmatsich entgegen? Die Verantwortlichen haben sich für Schumanns einziges Klavierkonzert entschieden. Eine gute Wahl, denn Schumann verstand es, seinen Gefühlslagen, seiner emotionalen Befindlichkeit ganz unmittelbar Ausdruck zu verleihen und setzte damit einen wirkungsvollen Kontrast zum alle Dimensionen überschreitenden, episch und architektonisch konzipierenden Bruckner. Durch die Stimmungsschwankungen mögen vor allem seine Instrumentalkonzerte manchmal leicht sperrig erscheinen und stellen die Interpreten vor anspruchsvolle Herausforderungen.

Die Pianistin Hélène Grimaud vermochte all die geforderten Stimmungen mit virtuoser Innigkeit des Ausdrucks zu erfassen. Energiegeladen der wuchtige Einstieg (den Grieg in seinem a-Moll Konzert quasi kopierte), wunderbar fein dann die darauffolgende Aufnahme des Oboenthemas. Fantastisch gelang die Zwiesprache, das von Schumann intendierte Dialogisieren zwischen Klavier und Orchester. Paavo Järvi und die Pianistin schienen sich sehr gut zu verstehen, intenisv aufeinander einzugehen, meisterten die Sturm- und Drang-Passagen und die Wechsel der Melodieführung hervorragend. Von rasanter Präzision erfüllt spielte Hélène Grimaud die Kadenz mit ihren durch beide Hände führenden Trillerketten. Mit fein und doch spannungsgeladen hingetupften Tönen voller Innigkeit interpretierten die Solistin und Orchester das Intermezzo, wie ein zartes Liebesgeflüster erklangen die Wechselspiele zwischen den Holzbläsern, dem Horn, den Celli und dem Klavier. Mit fein ausgehorchter Subtilität gelang der nahtlose Übergang in den Schlusssatz, in welchem die hochromantischen Wellen des Liebesüberschwangs dominierten. Erneut bewunderte man die Virtuosität der Solistin, welche nie oberflächlich wirkte, sondern gekonnt nach Ausdruck und Tiefe strebte. Ihr Ausnahmetalent offenbarte sie dann auch in der vom Publikum mit Dankbarkeit aufgenommenen, spannungsgeladenen Zugabe.

Kaspar Sannermann, 31.1.2022

Foto vom Rezensenten